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Blut und Rüben

Blut und Rüben

Titel: Blut und Rüben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Voehl
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Trösten Sie sich: Er hat ein paar Stufen weniger.«
    »Ich weigere mich!«
    »Sie wollen sich nicht den Ort anschauen, an dem Ihr Großonkel sich in den Teich gestürzt hat?«
    Es ging ihm wirklich nicht gut. Seine Höhenangst war mitnichten weggeblasen. Dennoch musste ich ihm Respekt zollen. Ollie machte keinen weiteren Rückzieher.
    »Sie müssen nicht hinauf«, sagte ich auf halber Strecke.
    »Ich bin es ihm schuldig«, beharrte er.
    Endlich hatten wir die Plattform erreicht. Sie war viel größer als die Kammer im Nachbarturm und fast wie geschaffen für einen touristischen Aussichtspunkt. Ich führte Ollie zum Geländer. Es wehte ein starker Wind, der uns den feinen Nieselregen ins Gesicht peitschte.
    Wenn es in Lippe nicht regnet, dann nieselt es.
    Es sei denn, es schüttet wie aus Eimern.
    »Ihr Großonkel ist an jenem Morgen, an dem er sich in den Teich gestürzt hat, hier über das Geländer geklettert. Vorher hat er genau an dieser Stelle seine Kleidung abgelegt. Die Polizei hat seine letzten Schritte genau rekonstruiert. Dann ist er vorsichtig weitergeklettert – bis zum Ende.«
    Ollie schluckte. »Es ist unvorstellbar«, murmelte er. »Wir Dickens sind todesmutig, aber nicht wahnsinnig. Warum also hat er das getan?«
    »Die Polizei hat zwei Theorien entwickelt: Die eine hat mit der Esoterikliebe Ihres Großonkels zu tun. Er schwor auf sein morgendliches Bad in der Natur, um die Dämonen der Nacht fortzuspülen. Warum sollte der Mörder es also nicht hier versuchen? Niemand würde ihn in dieser frühen Stunde dabei stören.«
    » So far so good , aber warum musste Onkel Reginald unbedingt von diesem Felsen springen, um sich ein Bad zu gönnen?«
    »Das bringt uns zu Theorie Nummer zwei: Ihr Großonkel war pleite, wie wir heute wissen. Schon damals munkelte man, als man die Leiche fand, von Selbstmord. Und geht bis heute davon aus.«
    »Nie und nimmer: Ein Dickens blickt dem Tod ins Auge – bis zum Schluss. Aber er führt niemals die Waffe gegen sich selbst!«
    »Wollen Sie meine Theorie hören?«
    Er nickte. »Kommen Sie mit«, bat ich.
    »Mit? Wohin?«
    Ich kletterte über das Geländer. Spätestens jetzt merkte ich, dass ich bei Weitem noch nicht wieder der Alte war. In meiner Brust schien etwas zu zerreißen. Ich biss die Zähne zusammen.
    Auf der anderen Seite des Geländers war der Ausblick der gleiche – nur dass es ein paar Schritte weiter steil hinunterging.
    »Machen Sie keinen Nonsens!«, beschwor mich Ollie. »Kommen Sie zurück!« Er war kreidebleich geworden. Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    »Wie war das: Ein Dickens blickt dem Tod ins Auge?«, erinnerte ich ihn.
    »Aber nicht dem Wahnsinn!«
    Ich sah hinunter. Der Kartenverkäufer war aus seinem Häuschen gekommen und schaute herauf. Ich sandte ihm eine beruhigende Handgeste.
    »Wenn ich es kann, können Sie es auch, Ollie.«
    »Aber warum sollen wir uns beide hinunterstürzen?«
    »Seien Sie kein Dummkopf. Ich habe nicht vor, Sie oder mich in Gefahr zu bringen. Ich will Ihnen nur etwas zeigen.«
    Ollie seufzte. Er hob ein Bein und legte es auf das Geländer. Dabei schloss er die Augen. Er zitterte. Dann hievte er sich hoch und zog das zweite Bein nach. Es sah erbärmlich ungelenk aus.
    »Machen Sie wenigstens die Augen auf!«, riet ich ihm. Die Steine waren hier oben zwar relativ breit, aber der Nieselregen hatte sie rutschig werden lassen. Ollie hörte auf meinen Rat. Er ließ sich auf alle viere nieder. Langsam robbte er sich in meine Richtung. Ich hatte mich inzwischen gut zwei Meter von dem Absperrgitter entfernt.
    »Schauen Sie hinunter, Ollie!«
    »Ich will nicht!«
    »Ihr Großonkel ist damals genau den gleichen Weg gegangen wie wir. Er hat die Stufen erklommen, ist über die Absperrung geklettert – und ist gesprungen!«
    » Shocking!«
    » Jetzt kommen Sie endlich!« Ich streckte meinen Arm aus. Er ergriff meine Hand. Seine war feucht und glitschig.
    Endlich war er an meiner Seite. Ich half ihm hoch. Er schwankte leicht. Sein Gerede, dass er Höhenangst hatte, war keine Ausflucht. Dennoch musste ich es ihm zumuten.
    Nur von dieser einen Stelle aus sah man die Blutflecken.
    »Und jetzt: Schauen Sie hinunter!«
    »Niemals!«
    »Denken Sie an Ihre Familienehre!«
    »Mein Leben ist mir heiliger!«
    »Also gut, dann reißen Sie sich endlich zusammen – Ihrem Großonkel zuliebe. Er hat damals mit der Familie gebrochen, weil er es nicht ertragen konnte, Sie in Mädchenkleidern aufwachsen zu sehen. Zeigen Sie ihm, dass

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