Blut und Silber
wen dort schnelle Hilfe noch retten konnte?
Er ging zu dem jungen Wundarzt, bei dem er sich erst vor zwei Tagen in Leipzig nach ihr erkundigt hatte. Jahre schienen seitdem vergangen.
Der Feldscher scheuchte gerade ein paar Helfer los, Wasser vom Fluss zu holen, befahl der Frau, dem Mann neben ihr mit der hässlichen Bauchwunde auf keinen Fall etwas zu trinken zu geben, und kniete dann neben einem jungen Burschen nieder, dessen Bein völlig zermalmt war und der kein Lebenszeichen mehr von sich gab, während ihm eine Aderpresse angelegt wurde. Der Feldscher zog ihm die Lider hoch, legte die Finger an die Halsschlagader, um nach einem Puls zu fühlen, dann zuckte er müde mit den Schultern und nahm die Aderpresse wieder ab.
»Schafft ihn zu den anderen«, wies er zwei Knechte an und zeigte mit dem Kopf in die Richtung, wo die Toten nebeneinanderlagen.
»Ich suche Änne«, sprach Markus ihn an. Diesmal musste er nicht erst erklären, wen er meinte.
»Die ist dorthin gegangen«, erwiderte der junge Mann und wies mit dem Arm die Richtung. »Wo gestern das zweite Lazarett war. Bring sie gleich hierher, ich brauche sie dringend.« Ungeduldig lief Markus in die genannte Richtung. Das dortige Lazarett schien abgebrochen worden zu sein, was ihn verwunderte. Im Gegensatz zu dem üblichen Gedränge war an dieser Stelle nun ein leerer Platz, soweit er es aus der Ferne sehen konnte. Und dann entdeckte er ihre schmale Gestalt mit krampfhaft verschlungenen Händen vor einer Reihe Toter.
»Änne!«, rief er.
Kreidebleich fuhr sie zu ihm herum und starrte ihn an wie einen Geist. An ihrem Blick erkannte er, dass sie ihn für tot gehalten hatte. Änne sah aus, als würde sie gleich umfallen, aber etwas an ihrer Miene war merkwürdig. Ein bisschen mehr Freude hatte er schon erwartet.
Jemand trat von der Seite zu ihnen, eine Gestalt, die abseits auf einem umgefallenen Baumstamm gesessen hatte und die er erst jetzt wahrnahm und erkannte.
Christian! Doch auch der junge Freund wirkte ungewohnt düster. Was war hier passiert?
Dann sah er ihn: Conrad Marsilius, in einer Reihe mit vielen Toten, denen samt und sonders die Kehlen durchgeschnitten worden waren.
»Sibylla … ist auch tot«, erklärte Christian beklommen, und seine Augen begannen verräterisch zu glänzen.
»Wie ist das geschehen?«, fragte Markus erschüttert.
Ihm war klar gewesen, dass er an diesem Tag noch etliche von seinen Freunden und Gefährten unter den Toten finden würde – doch nicht diese beiden! Sie hätten hier in Sicherheit sein müssen!
»Ein paar versprengte Königliche haben das Krankenlager überfallen«, berichtete Christian. »Marsilius warf sich vor Sibylla, um sie zu schützen. So starben beide. Und das Schlimmste ist: vor Ulrichs Augen! Er war nur noch zehn Schritte entfernt, aber auch er hätte sie nicht retten können. Er … hat ihren Leichnam mit ins Zelt genommen und will ihr in Leipzig ein anständiges Begräbnis ausrichten. Mach vorerst besser einen Bogen um ihn, er ist nicht mehr er selbst.«
Vergeblich versuchte sich Markus vorzustellen, wie Ulrich von Maltitz wohl jetzt am Tod seiner Liebsten tragen mochte. Dann sah er zu Änne, die immer noch kreidebleich und reglos dastand.
»Ich … kann jetzt überhaupt nichts mehr fühlen …«, gestand sie mit hochgezogenen Schultern. »Weder Freude, dass du noch lebst, noch Trauer um ihn … Dabei hat er viele Jahre sein Bestes getan, um mich zu schützen …«
»Er war ein tapferer Mann«, sagte Markus leise. »Noch mit seinem letzten Atemzug versuchte er, jemanden zu retten.«
Er trat zu Änne und legte ihr behutsam den Arm um die Schultern. So erschöpft er selbst war, er hatte die Leere in ihren Augen erkannt. Was sie in den letzten Tagen durchgestanden hatte, reichte wohl, das Innere eines Menschen auszubrennen: das Halsgericht in Freiberg, ihre Verhaftung, was immer sie bei dem Burgvogt erlebt haben mochte … verstoßen und verflucht zu werden … das Übermaß an Leid, das sie hier zu sehen bekam und zu mildern versucht hatte … Sie musste gedacht haben, auch er sei gefallen. Und dann der jähe, gewaltsame Tod Sibyllas und des alten Arztes.
Es hatte inzwischen leicht zu regnen begonnen, und Markus sah, dass Änne fror, obwohl es nicht kalt war. Vorsichtig zog er sie näher zu sich, um sie mit seinem Körper zu wärmen und ihr Halt zu geben. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht einmal begriffen, dass sie nun Witwe war. Aber ob das überhaupt etwas bedeutete, nachdem ihr
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