Blut vergisst nicht: 13. Fall mit Tempe Brennan
Merkel glaubt, dass O'Hare wahrscheinlich Schwierigkeiten wegen NAFTA hat. Auf Kanada einzuprügeln bringt ihm vielleicht Punkte bei seinen Leuten zu Hause.«
Diese Theorie war nicht völlig von der Hand zu weisen. North Carolina war von dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen stark betroffen, in der Textil- und Möbelindustrie waren Tausende von Jobs verlorengegangen. Aber der Vertrag war schon 1994 unterzeichnet worden.
»Lowery senior will außerdem wissen, wer zum Teufel im Grab seines Sohns liegt, wenn John eben erst in Quebec starb.«
Auch das war verständlich.
»Notter will ganz sichergehen, dass die Geschichte sich nicht in einen Medienalbtraum verwandelt.«
»Was hat er vor?«
»Du lebst in North Carolina.«
»Tue ich, ja.« Argwöhnisch.
»Du kennst die Sitten und Gebräuche dort unten.«
»Aha.«
»Notter will, dass du nach Lumberton gehst und denjenigen ausbuddelst, der in diesem Grab liegt.«
6
Plato Lowery war jünger, als ich erwartet hatte, höchstens Anfang achtzig. Seine Haare waren von der Art, die in Los Angeles Kellner zu Stars macht. Sie waren zwar völlig weiß, wallten aber dicht und glänzend von einem Mittelscheitel weit über seine Ohren.
Doch es waren Lowerys Augen, die einen fesselten, schwarz wie Wurmlöcher im All. Sein Blick fuhr einem wie ein Laserstrahl direkt in die Seele.
Lowery sah zu, als ich die Grabung stoppte. Die anderen Teilnehmer der Versammlung: der Baggerfahrer, zwei Friedhofsarbeiter, ein Reporter vom Robesonian, ein weiterer von WBTW, ein Polizist aus Lumberton, ein Lieutenant der Army, der gerade mal wie sechzehn aussah.
Es war Donnerstag, der elfte Mai. Zwei Tage nach Dannys Anruf bei mir.
Obwohl es kaum zehn Uhr vormittags war, lag die Temperatur bereits bei über dreißig Grad. Die Sonne prallte auf den psychedelisch grünen Rasen des Friedhofs. Der Geruch feuchter Erde und frisch gemähten Grases hing schwer in der Luft.
Ich kauerte mich hin, um mir die eine Seite des frisch geöffneten Grabs näher anzuschauen.
Die Stratigrafie erzählte die Geschichte.
Die oberste Schicht war satt schwarz-braun, die darunter anämisch gelb-braun. In knapp eineinhalb Meter Tiefe hatten sich die Zähne der Baggerschaufel in eine dritte Schichtung gebissen. Wie bei der Deckschicht war auch die Erde hier gesättigt mit organischen Bestandteilen.
Ich wies den Baggerfahrer an, zurückzufahren, und die Friedhofsarbeiter, in Aktion zu treten. Die Männer nahmen ihre Schaufeln zur Hand, sprangen in das Loch und begannen, Erde aus dem Grab zu schaufeln.
Binnen Minuten kam ein Sarg zum Vorschein. Mir fiel auf, dass keine Schutzummantelung vorhanden war, nur die Überreste einer eingestürzten Grabauskleidung. Schlechte Nachrichten.
Eine Ummantelung, ob aus Beton, Plastik oder Metall, umhüllt einen Sarg komplett. Eine Grabauskleidung schützt nur den Deckel und die Seitenwände eines Sargs und ist weniger widerstandsfähig. Erde ist schwer. Das Fehlen einer Schutzummantelung ließ für den Zustand des seit vierzig Jahren in der Erde liegenden Sargs nichts Gutes erwarten.
Nach einer Stunde stand der Sarg frei in dem ausgehobenen Grab. Obwohl an einem Ende etwas flach gedrückt, wirkte er größtenteils intakt.
Wahrend ich fotografierte, fuhr einer der Assistenten des Coroners den Transporter an den Grabrand.
Nach meinen Anweisungen wurde ein Brett unter den Sarg geschoben und je eine Kette um das Kopf- und Fußende geschlungen. Während die Friedhofsarbeiter ihn mit Gesten dirigierten, hob der Baggerfahrer den Sarg langsam in die Höhe, schwang den Baggerarm nach rechts und stellte den Sarg auf dem Boden ab.
Auf dem smaragdgrünen Gras und in der warmen Frühlingssonne wirkte der Sarg beklemmend unpassend. Während ich mir Notizen machte und fotografierte, dachte ich an John Lowerys andere sonnenbeschienene Wiederauferstehung viel weiter nördlich.
Und an den lebhaften jungen Mann auf dem Foto aus Jean Lauriers Schreibtischschublade.
An diesem Morgen hatte ich die gesamte IDPF gelesen, die Individual Deceased Personal File. Zu dieser detaillierten Personalakte eines verstorbenen Militärangehörigen gehörten Unterlagen, die das Militär 1968 eingeschickt hatte. DD Form 893, das Dokument über den anatomischen Identifikationsprozess; DA Form 10-249, der Totenschein; DD Form 1384, die Dokumentation über den Transport der Leiche; DD Form 2775, die Dokumentation über die Vorbereitung und Bestattung der Überreste.
Das Akronym TSN-RVN verstand ich. Tan Son Nhut
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