Blut Von Deinem Blute
fort, der viel zu selten Besuch bekam und nun entsprechend rücksichtslos abspulte, was er sich zu sagen vorgenommen hatte. »Sie hat sie alle getäuscht. Aber mich nicht. Ich habe es in ihren Augen gesehen, auch wenn sie so getan hat, als täte es ihr leid.« Ihre Züge wurden hart. »Aber es ist kein Spiel gewesen. Sie hat es mit voller Absicht getan.«
Du musst Fragen stellen. Du darfst keine Angst haben!
»Sie hat davon gewusst.« Claire Bishops Blick verschwamm erneut. »Aber sie hat angenommen, es sei ein Versehen gewesen. Obwohl ich sie gewarnt hatte.«
Diese Leere. Laura spürte das Gras unter sich, das nachzugeben schien. Diese entsetzliche Leere.
»Ich hatte sie gewarnt«, wiederholte die alte Dame leise. »Und sie wollte ja auch fort. Aber sie war ... « Eine plötzliche Erinnerung ließ sie stutzen. »Sie erwartete ein Kind, nicht wahr?«
»Meine Mutter?«, stieß Laura mühsam hervor. »Reden Sie von meiner Mutter?«
»Sie hätte dieses Kind besser nicht bekommen.« Claire Bishop wischte die Fotografien von ihrem Schoß, als wolle sie sie auf einmal so schnell wie möglich loswerden. »Da war etwas Schlechtes in ihr«, flüsterte sie. »Sie konnte sehr wütend werden. Schon immer. Sie war gefährlich.« Sie hielt inne und strich mit penibler Sorgfalt ihre Decke zurecht. »Sie hatte Freude daran, wissen Sie?«
Ungeachtet ihres Alters und Zustandes packte Laura die Lehrerin bei den Schultern und zwang sie so, ihr noch einmal in die Augen zu sehen. »Von wem, zum Teufel, sprechen Sie?«, schrie sie der alten Dame ins Gesicht. »Woran hatte sie Freude?«
Claire Bishop schrie vor Schreck leise auf und versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden.
Doch Laura hielt sie eisern fest, auch wenn sie dabei recht grob werden musste. »Antworten Sie mir! Woran hatte sie Freude?«
Die zarten Lider über den Veilchenaugen flatterten nervös. »Am Töten.«
Laura ließ ihre Schultern los, und die alte Dame sank ächzend in ihren Liegestuhl zurück, wo sie mit geschlossenen Augen sitzen blieb.
»Verdammt noch mal, Tommy!«, klang es wie aus einer anderen Welt quer über den Rasen. »Dad wird dich windelweich prügeln, wenn er nach Hause kommt, darauf kannst du dich verlassen!«
Dem wenig erfreulichen Versprechen folgte ein dumpfer Schlag und gleich darauf ein schrilles, lang gezogenes Heulen, das nach einer Weile ebenso abrupt endete, wie es begonnen hatte. Über den niedrigen Horizont zuckte ein Blitz, und als Laura kurze Zeit später aus dem Gartentor stürzte, fielen erste schwere Regentropfen auf das ausgedörrte Gras.
8
Die Rückfahrt verlief ohne Komplikationen, sodass Leon bereits eine gute Stunde vor Abfahrt der Fähre wieder am Hafen von Portsmouth war. Er gab den Wagen zurück, erledigte die Formalitäten und holte sich anschließend an einem der zahlreichen Kioske einen Kaffee.
Es hatte noch immer nicht gewittert. Dafür war die Luft wie elektrisiert. Leon beobachtete die Wellen, die bleigrau und träge gegen den Kai schwappten, weil der Wind für einige Augenblicke den Atem anhielt. Wahrscheinlich nur, um Anlauf zu nehmen. Im Hafenbecken trieb toter Tang, olivgrün und knotig, wie mit unzähligen Geschwüren übersät.
Das ist die andere Seite des Meeres, dachte Leon, die hässliche. Er sah zu den zahllosen Kränen hinüber, die ihre Ausleger wie Fangarme in den trüben Gewitterhimmel reckten, während sein Gehirn den Märchendichter Andersen beschwor: Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume . ..
Im Geiste sah Leon Mia Bradley in einem winzigen Nachen aufs Meer hinaustreiben. Sie stand ganz vorn am Bug und lächelte, die speckigen Jeans durchnässt bis zum Oberschenkel und das Blondhaar zerzaust vom Wind.
Wer war diese Frau – was war sie?
Skrupellos? Verrückt? Verloren?
Leon schüttelte ratlos den Kopf und setzte sich auf eine verwitterte Bank. Hin und wieder trieb der Wind, der wieder deutlich an Stärke gewonnen hatte, ein paar Stimmfetzen an sein Ohr. Silben. Das Bruchstück eines Kinderlachens. Leon nippte an seinem Kaffee. Die meisten Leute,die Richtung Anleger pilgerten, schienen es eilig zu haben. Dies war definitiv kein Tag zum Trödeln und Draußensitzen! Leon kippte den Rest seines Kaffees hinunter und zog kurz entschlossen sein Handy aus der Tasche. Dann rief er die Auskunft an und ließ sich die Nummer der Galerie geben, die Mia Bradley am Tag zuvor zwei Bilder geschickt hatte.
Der Mann, der sich nach kurzem Klingeln meldete, war
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