Blut Von Deinem Blute
aus allen Nähten zu platzen – und wirkte abgetragen. Aber es war eindeutig derselbe Pullover, den sie selbst vor fünfzehn Jahren im Herrenhaus zurückgelassen hatte.
Wie kann sie es wagen!, schoss es ihr durch den Sinn, während eine Welle von Empörung durch ihre Adern pulste. Das ist mein Pullover. Eins der wenigen Dinge, die mir je etwas bedeutet haben.
Mia hatte ihre Jacke an die Garderobe gehängt und nahm die Tüte, die sie zwischenzeitlich auf dem Fußboden abgestellt hatte, wieder auf, bedachtsam wie einen großen Schatz. Ihre Hände waren voller Farbflecke, und Laura überlegte, was die Leute dachten, wenn sie ihre Schwester so sahen. Dick. Ungepflegt. Die riesigen Männerhände über und über mit Farbe bespritzt.
»Kann ich den Schlüssel zum Gesindezimmer noch mal haben?«, bat sie, wobei sie sich alle Mühe gab, nicht zu unterwürfig zu klingen. Schließlich hatte sie jedes Recht der Welt, hier zu sein und sich anzusehen, was immer ihr beliebte.
Mia hielt mitten in einer Bewegung inne. »Wieso?«, fauchte sie. »Was willst du schon wieder bei Mutters Sachen?«
»Ich bin beim letzten Mal nicht fertig geworden und ...«
»Fertig womit?«
»Mir die Sachen anzusehen.«
Ihre Schwester blieb einen Moment unschlüssig stehen. Dann nickte sie, allerdings so halbherzig, dass Laura ernsthaft bezweifelte, dass sie mit ihren Gedanken überhaupt bei der Sache war. Vielleicht gierte sie nach dem Essen, das sie sich mitgebracht hatte. Oder aber ihr Verstand befand sich wieder einmal auf einer Reise in die düsteren Abgründe ihrer kranken Phantasie.
»Pass auf, dass du nichts kaputt machst«, mahnte sie, indem sie ihren riesigen Schlüsselbund auf der Tasche ihrer Jeans fingerte und den entsprechenden Schlüssel abzog.
Dann schlurfte sie durch die dunkle Diele davon.
Laura hörte, wie sie die Tüte aufriss, kaum dass sie über die Schwelle zur Küche war. Sie nimmt sich nicht einmal die Zeit, sich einen Teller aus dem Schrank zu nehmen, dachte sie angeekelt. Sie ist total verroht. Die fünfzehn Jahre, die sie allein in diesem Haus verbracht hat, haben ein für alle Mal und endgültig eine Barbarin aus ihr gemacht!
Sie probierte den Schlüssel, den Mia ihr gegeben hatte, und stellte erleichtert fest, dass es der richtige war. Ausdem Zimmer schlug ihr stickige Wärme entgegen. Laura zog die Tür hinter sich zu und kippte das Fenster. Draußen regnete es noch immer in Strömen. Der Wind fegte die Tropfen gegen die Scheibe und durch den Spalt auch auf die Fensterbank, wo sie sich innerhalb von Sekunden zu kleinen Lachen vereinigten.
Und wenn schon!, dachte Laura. Von mir aus kann dieses ganze verdammte Haus absaufen!
Sie schaltete das Licht an und machte sich daran, die Koffer und Kisten ein weiteres Mal durchzusehen. Und sie wurde schnell fündig. Der Band mit den Verlaine-Gedichten lag in der zweiten Kiste, die sie sich vornahm, doch zu ihrer Enttäuschung enthielt er keinerlei Hinweis auf den Besitzer. Laura nahm sich die Zeit, das ganze Buch durchzublättern, aber auch sonst fand sich nichts Bemerkenswertes, keine Randnotizen, kein Stempel, nichts. Frustriert wandte sie sich den anderen Büchern zu, schlug jedes einzelne von ihnen auf und prüfte akribisch Einbände und Deckblätter – ohne jeden Erfolg. Und auch die erneute Lektüre der wenigen Briefe, die ihre Mutter aufbewahrt hatte, brachte keine neuen Erkenntnisse.
Ratlos begann Laura, die Kiste wieder einzuräumen, als das Licht erlosch. Zuerst dachte sie an einen neuerlichen Kurzschluss, doch als sie sich umdrehte, sah sie ihre Schwester bei der Tür stehen, eine Hand auf dem Schalter, die andere fest in die schwabbelige Hüfte gestemmt.
»Was um Himmels willen suchst du eigentlich?« Ein Anflug von Argwohn verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen.
Und was zur Hölle geht dich das an?, dachte Laura beisich. Aber diesen Kontrollzwang hatte ihre Schwester schon immer gehabt. Bereits als Kind war sie überall herumgeschlichen und hatte Informationen gesammelt. Wer wann wo zur Toilette ging, in den Keller, zur Kirche, zum Strand. »Nichts Besonderes.«
»Das Zeug ist doch bestimmt voller Motten«, befand Mia, während die Blicke aus ihren Augenschlitzen über die Koffer und Kisten glitten. »Motten und Käferlarven und Mäusedreck und was weiß ich noch alles.«
Laura griff neben sich auf den Boden und hielt ihrer Schwester triumphierend eine Mottenkugel entgegen. »Tja, ich schätze, Madame Bresson hat das irgendwie kommen
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