Blut Von Deinem Blute
beinahe körperlich spüren, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen ihnen wieder zu ihren Ungunsten verschob. Zugleich hatte sie das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Irgendetwas hatte die Tür zwischen ihnen, die für ein paar flüchtige Sekunden offen gewesen war, wieder zugeschlagen. Und nun gewann ihre Schwester die Kontrolle zurück. »Ich weiß auch, wo ich gewesen bin.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Und wo warst du?«
Laura stand auf. Sitzend war sie diesem Gespräch nicht länger gewachsen. »Im Bett. Ich habe geschlafen.« Ein spöttischer Blick. »Um neun Uhr abends.«
»Woher weißt du das so genau?«
Sie hatten nie darüber gesprochen, da war sich Laura ganz sicher. Und dass die Polizei Details ihrer Aussage an ihre Schwester weitergegeben haben sollte, erschien ihr mehr als unwahrscheinlich.
»Ich weiß alles. Ich habe mich nämlich damit beschäftigt.« In Mias Stimme mischte sich ein neuer Klang. Etwas, das gefährlich wirkte. »Ich habe mich dafür interessiert.«
»Ich interessiere mich auch dafür.«
»Seit wann?«
Treffer! Laura schloss die Augen. Sie durfte sich nicht provozieren lassen. Und es durfte Mia auch nicht gelingen, ihr Angst zu machen. Nicht noch einmal. »Warum hast du diesen Pullover an?«, fragte sie anstelle einer Antwort.
»Wieso?« Mia blickte an sich herunter. »Was ist denn damit?«
»Er gehört mir.«
Diese Aussage schien ihre Schwester zu verblüffen. Sie betrachtete die verfilzten Ärmel, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Tatsächlich?«
»Ja.«
»Und warum hast du ihn dann nicht mitgenommen?«
Gute Frage! »Weil ich in diesem ganzen Trubel nicht daran gedacht habe«, entgegnete Laura, wohl wissend, dass diese Aussage nicht der Wahrheit entsprach. »Aber es ist mein Pullover.«
Ihre Schwester lachte laut auf. »Diese hässlichen Biester da oben auf dem Nachtschrank gehören auch dir«, wandte sie ein. »Und trotzdem hast du dich seit fünfzehn Jahren nicht für die blöden Bälger interessiert. Nicht für deine Puppenbälger und nicht für deinen Vater. Du bist einfach abgehauen, ohne dich um irgendwas zu kümmern. Also erzähl mir jetzt bloß nichts von wegen Eigentum und Pullovern, klar?«
Laura spielte mit dem Gedanken, noch einmal bei ihrem Vater einzuhaken. Aber wenn sie den Verlauf dieses Gesprächs Revue passieren ließ, schien ihr das keine besondersgute Idee zu sein. »Ich vermisse übrigens mein Handy«, sagte sie stattdessen. »Ich hatte es auf meinem Nachtschrank liegen, aber seit der Grippe ist es weg.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«, fauchte Mia. »Glaubst du vielleicht, ich hab's verschwinden lassen?«
Sag nein! Oder willst du, dass sie argwöhnisch wird? Denk an deine Verabredung. Du willst dir doch nicht alles kaputt machen, jetzt, da endlich ein bisschen Bewegung in die Sache gekommen ist, oder?
»Du traust mir nicht.« Mia war einen Schritt näher gekommen und wirkte auf einmal viel größer als sonst. Größer und kräftiger. In ihren Mundwinkeln glänzten ein paar fettige Salzkörner, Reste ihres Abendessens, Pommes mit Bratapfel.
Laura fühlte, wie ihre Ferse gegen einen der Koffer stieß. Schluss mit Zurückweichen. Wenn Mia jetzt explodierte, gab es kein Entkommen. Zugleich hätte sie am liebsten laut losgelacht. Genau wie damals. Genau wie an jenem Nachmittag, an dem sie Madame Bresson zum ersten Mal begegnet war. Ist es nicht eigenartig, dachte sie, wie das Groteske immer zugleich auch komisch ist? »Warum um Himmels willen sollte ich dir trauen?«, gab sie zurück, um sich wenigstens nicht auch noch verbal in die Enge treiben zu lassen. »Ausgerechnet dir?«
»Weil ich deine Schwester bin.« Es klang eigentlich nicht wie eine Antwort. Eher wie ein Vorschlag.
»Mag sein, aber du hast mich verraten.«
Es ist zu spät für Solidarität, Schwesterchen. Du hattest deine Chance, aber du hast dich für unseren Vater entschieden. Ende. Aus. Vorbei.
Mia wandte sich ab, ohne sich auch nur einen Millimetervon der Stelle zu rühren. »Ich habe das nie wiedergutmachen können«, sagte sie nach einer Weile in einem Tonfall, dessen nüchterne Sachlichkeit Laura in Erstaunen versetzte. »Du hast mir keine Chance mehr gegeben. Mir nicht und ihm auch nicht.«
Dann schwieg sie wieder. Ein tiefes, beunruhigendes Schweigen, das Laura mit jeder Sekunde, die es dauerte, nervöser werden ließ. Sie beobachtete Mias Rücken und suchte nach einem Indiz dafür, dass ihre Schwester endlich gehen würde. Verschwinden. Den Raum verlassen. Doch
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