Blut Von Deinem Blute
sie rannte nicht. Nicht, dass sie nicht hätte rennen wollen, im Gegenteil, am liebsten wäre sie gelaufen bis ans Ende der Welt. Aber ihr war klar, dass das Ende der Welt selbst an der entferntesten Stelle nur ein paar Kilometer entfernt war. Dahinter war schwarzes, aufgepeitschtes Wasser. Schluss. Aus. Keine Fluchtmöglichkeit, kein Entkommen.
»Du Armes«, flüsterte sie, und erst mit einigen Sekunden Verzögerung wurde ihr klar, dass sie das Baby meinte, das sie nicht haben wollte. »Was tue ich dir nur an?«
Sie war in einem eigenartigen Zustand, erschöpft, aber zugleich hellwach. All ihre Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft und ihr ganzer Körper befand sich in einemZustand höchster Alarmbereitschaft. Denn eines war ihr beim Anblick der toten Conchita Perreira sofort klar gewesen: Jemand hatte sie in eine sorgfältig konstruierte Falle gelockt. Nein, korrigierte sie sich. Nicht jemand ... Mia!
Ihre Schwester war der einzige Mensch, der von ihrer Verabredung mit dem ehemaligen Zimmermädchen gewusst haben konnte. Vielleicht hatte sie das kurze Telefonat belauscht, das sie mit Conchita geführt hatte. Oder aber ... Laura stutzte. Und wenn es gar nicht Conchita war, die mich angerufen hat?, schoss es ihr durch den Kopf. Was, wenn es Mia war? Wenn sie mich ganz bewusst in den Park gelockt hat? Und Conchita ebenfalls? Immerhin war Conchitas Stimme so anders, dass ich sie nicht erkannte hätte, wenn sie mir nicht ihren Namen genannt hätte.
Du bist in eine Falle getappt! Deine Schwester hat längst mitbekommen, dass du ihr auf der Spur bist. Sie hat Conchita zum Schweigen gebracht, und dann hat sie es so eingerichtet, dass du zur Tatzeit im Park bist, damit du in Verdacht gerätst. Du sollst eines Mordes verdächtigt werden, den du nicht begangen hast.
Laura blieb stehen. Instinktiv hatte sie nicht denselben Weg genommen, den sie gekommen war, sondern hatte den Nebenausgang an der Park Estate gewählt. Doch jetzt war sie beinahe an der Rue des Genets, was bedeutete, dass sie jederzeit mit Passanten rechnen musste. Mit Menschen, die vorbeifuhren oder -gingen und die sich vielleicht an sie erinnerten, wenn die Polizei erst einmal anfing, nach Zeugen zu suchen.
Wie in Trance tasteten Lauras Finger nach ihrem Nacken. Das hier war ein Parka, oder nicht? Und jeder Parka verfügte von Haus aus über eine Kapuze! Ja, da war sie! Klamm und schwer hing sie auf ihre Schultern hinunter.Laura bekam sie zu fassen, streifte sie über den Kopf und zog sich die Ränder tief ins Gesicht. Ihre Augen suchten die regennasse Straße ab, während sie langsam weiterging. Im Gehen versuchte sie, sich etwas kleiner zu machen, indem sie den Rücken rundete und den Kopf weit vornüberbeugte. Ihr war klar, dass ihre einzige Chance, nicht mit dem Mord an Conchita Perreira in Verbindung gebracht zu werden, darin bestand, nicht mit dem Tatort in Verbindung gebracht zu werden. Sie musste glaubhaft machen können, dass sie den ganzen Abend im Herrenhaus gewesen war. Selbst wenn Mia das Gegenteil behauptete, würde in diesem Fall Aussage gegen Aussage stehen. Ihr Wort gegen das einer apfelwerfenden Verrückten.
Das könnte funktionieren. Aber nur, so lange dich niemand hier draußen sieht. Nur so lange ...
Sie wechselte die Straßenseite und hatte urplötzlich das Gefühl, dass sich der Asphalt unter ihren Füßen zu drehen begann. Langsam zuerst, aber dann immer schneller. Sie musste auf der Hut sein. Die Falle durfte nicht zuschnappen. Oder hatte sie sich längst verraten? Was war mit Haaren, Fasern, Hautschuppen? Heutzutage gab es so viele Möglichkeiten, jemandem die Anwesenheit an einem bestimmten Ort nachzuweisen. Ihr Blick suchte den Himmel. Wenn es doch nur wieder zu regnen anfinge ...
Denk nach! Hast du irgendwas angefasst? Dich irgendwo abgestützt?
Unwillkürlich blickte Laura an sich herunter. Kein Blut. Keine Fingerabdrücke.
Und was, wenn Mia irgendwo hinter einem Baum gestanden und dich gefilmt hat?
Theoretisch brauchte man dazu nur ein Handy. Laurasenkte den Kopf noch tiefer. Vor ihr, auf dem nassen Asphalt, tanzte das Gesicht der ermordeten Conchita Perreira. Sie konnte noch nicht lange tot gewesen sein. Ihr Blut war noch frisch gewesen, flüssig, gut zu vermalen. Laura schloss die Augen. Aber sie hatte kein Messer gesehen. Keine Waffe. Nichts.
Dann hat sie es mitgenommen, um es irgendwo zu verstecken. Genau wie damals.
Aber wenn Mia das Messer mitgenommen hatte, musste es zu finden sein. Es existierte! Laura
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