Blut Von Deinem Blute
spüren, wenn eine besonders kräftige Böe gegen das Haus brandete. Das erste Wort auf seiner Liste stand für das profanste aller Motive, und Leon setzte ihm eine in druckvollen Buchstaben notierte Frage entgegen: Warum so viel Blut ? Davon abgesehen fielen ihm zu diesem ersten Stichwort nur zwei Namen ein: Laura und Mia.
Wenn es tatsächlich um Geld ging, dachte Leon, wäredie Sache in der Tat mehr als eindeutig. Er machte einen flüchtigen Schnörkel unter das Wort Geld und wandte sich dem nächsten Punkt auf seiner Liste zu. Ginny Marquette hatte auf seine Frage nach einem möglichen Motiv gesagt, jemand müsse Nicholas Bradley gehasst haben.
»Nicholas Bradley wohlgemerkt«, murmelte Leon, »nicht Jacqueline Bresson.«
Aber ging es wirklich um ihn? Nur um ihn? War Jacqueline Bresson dem Mörder ihres Mannes lediglich durch einen unglücklichen Zufall in die Quere gekommen?
Probeschläge, dachte Leon. Probeschläge und ein bis heute verschwundenes Fleischermesser aus deutschem Stahl ...
Er schloss die Augen und versuchte sich Mia Bradley als achtzehnjähriges Mädchen vorzustellen. Sie hatte Probleme gehabt. Schulische Probleme. Andere Probleme. Vielleicht hatte sie ihren Vater gehasst, weil er sie deswegen zu einem Seelenklempner geschleppt hatte. Mia Bradleywurde schnell wütend, und wenn sie wütend wurde, vergaß sie, was sie tat. Das hatten gleich mehrere Personen unabhängig voneinander behauptet, und nach allem, was er selbst mit Mia erlebt hatte, zweifelte Leon keine Sekunde am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung.
Mia Bradley hat Talent, schrieb er trotzig direkt neben das Wort Hass . Vielleicht hatte sie tatsächlich Kunst studieren wollen, und ihr Vater war dagegen gewesen ...
»Aber sie hat ja eben nicht Kunst studiert«, widersprach er sich selbst. Im Gegenteil: Mia Bradley war auch nach dem Tod ihres Vaters auf Jersey geblieben und hatte ganz ohne Studium und in aller Stille eine beachtliche Karriere als Malerin gemacht.
Und Laura?
Vielleicht war es ja gar nicht Mia, sondern Laura gewesen, die sich an jenem Nachmittag so lautstark mit ihrem Vater gestritten hatte. Immerhin hatte sie die Insel sofort nach seinem Tod verlassen. Leons Finger spielten mit dem Clip des Kugelschreibers, während sein Blick auf das dritte Wort auf seinem Briefbogen fiel. Hatte Laura ihrem Vater die Schuld am Selbstmord ihrer Mutter gegeben? Hatte sie ihn gehasst, weil er ein so profaner Mensch gewesen war, ein Mann, der der psychischen und physischen Zerbrechlichkeit seiner Frau mit Gleichgültigkeit und Unverständnis begegnet war?
Laura hat sich immer in besonderem Maß für ihre Mutter verantwortlich gefühlt ...
Und was war mit Julien Bresson?
Geld spielte in seinem Fall nachweislich keine Rolle, im Gegenteil: Wegen des fehlenden finanziellen Motivs hatte die Polizei Jacqueline Bressons Sohn früh aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen – zu Unrecht? Leon seufzte. Aber warum hätte Julien Bresson seine Mutter töten sollen? Oder war Jacqueline Bresson am Ende gar von ihrem Ehemann ermordet worden? Hatte ihr Sohn sie gefunden und daraufhin seinen Stiefvater getötet? Und warum zum Teufel hatte Mia Bradley die Axt, mit der ihr Vater und ihre Stiefmutter getötet worden waren, abgewaschen?
Leon stieß den Stuhl zurück und stand auf. Aus irgendeinem Grund schien ihm diese letzte Frage von zentraler Bedeutung zu sein. Mia Bradley hatte zugegeben, das Beil in ihrem Atelier benutzt zu haben, ein paar Tage vor dem Mord. Sie hatte darüber hinaus ausgesagt, dass sie es amMorgen des Tattages nicht hatte finden können, weil es nicht an seinem Platz in der Schublade des Küchenschranks gelegen hatte. Dennoch war es wenige Stunden später als Mordwaffe benutzt worden ...
»Was, wenn es tatsächlich nicht da gewesen ist?«, überlegte Leon laut. »Was, wenn es jemand fortgenommen hat?«
Aber warum?, schaltete sich an dieser Stelle wieder einmal der allgegenwärtige Kevin in die Überlegungen seines Freundes ein. Um Nicholas Bradley zu töten?
Falls ja, würde das bedeuten, dass die Tat lange im Voraus geplant war, schloss Leon, indem er sich wieder auf den Schreibtischstuhl fallen ließ. Aber selbst wenn ... Warum war das Beil überhaupt aus der Küche entfernt worden? War das nicht vollkommen unnötig, ja, gefährlich?
Aber natürlich! Die Erkenntnis traf ihn buchstäblich wie ein Blitz. Auf dem Beil waren Mia Bradleys Fingerabdrücke!
Was, wenn jemand mitbekommen hat, dass sie das Beil kurz zuvor in
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