Blut Von Deinem Blute
funktioniert, wo die Welt aus Lug und Trug besteht. Und ist am wahren Leben gescheitert.«
»Die Phantasie ist nicht der schlechteste Ort, wenn man überleben will.« Mia Bradley senkte den Blick und rieb sich den Ton von den Fingern. »Nietzsche hat mal gesagt, dass wir die Kunst haben, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.«
»Ich persönlich halte es da eher mit Ingeborg Bachmann«, entgegnete Leon. »Ich bin der Meinung, dass die Wahrheit dem Menschen durchaus zumutbar ist.«
»Und was ist die Wahrheit?« Sie schien Gefallen an dieser Art von Schlagabtausch zu finden, denn sie lehnte den Rücken gegen die Arbeitsplatte und streckte die Beine aus. »Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit solchen Kacksätzen wie: Die Wahrheit ist das Gegenteil der Lüge oder so was ...«
»Ich glaube, was ich eben meinte, war gar nicht die Wahrheit als solche, sondern das wahre Leben«, erklärte Leon. »Die Realität.«
»Wie ich die Sache sehe, verhält es sich mit dem sogenannten wahren Leben nicht anders als mit einem Gemälde.« Mia Bradley warf ihren Zigarettenstummel in den Wassereimer unter dem Tisch. »Zwei Menschen betrachtendasselbe Bild, und doch sieht jeder etwas völlig anderes, weil beide nur das sehen, was sie sehen wollen.« Sie klopfte sich ein wenig Asche vom T-Shirt. »Denken Sie nur an Rorschach.«
Leons Augen suchten abermals das Bild auf der Staffelei. Nummer vierzehn. Wer bist du?, dachte er. Mia Bradley, die Irre, die Mörderin, schlecht in der Schule, aufbrausend, unattraktiv und gestört? Oder Mia Bradley, die Philosophin, die kleineren so um die fünfzehntausend?
Zwei Ansichten desselben Bildes . ..
»Wodurch hat Ihr armer Vater eigentlich derart bei Ihnen verschissen?«
Leon drehte sich um und blickte direkt in ihre undurchdringlichen Augen, die näher gekommen zu sein schienen, obwohl Mia Bradley noch immer an ihrer Arbeitsplatte lehnte. »Wie kommen Sie darauf, dass er bei mir verschissen hat?«
Sie kräuselte die Lippen. »Ihre Enttäuschung quillt aus jedem einzelnen Wort, das Sie über ihn verlieren. Selbst wenn es was Gutes ist.«
»Er hat sich nie auch nur einen Deut um meine Schwester geschert«, sagte Leon, ohne zu wissen, ob das der wahre Grund war. »Dabei hat sie alles getan, um so zu sein wie er. Nur leider hat er sich nicht die Bohne dafür interessiert, ganz gleich, welche Kopfstände sie unternommen hat, um ihn zu beeindrucken.« Seine Finger wischten ziellos über die Tischkante. Eine reine Übersprungshandlung. »Er hat es nicht mal für nötig gehalten, ihr eine kurze Karte zu schreiben, wenn sie ihn wieder mal zu einem Auftritt eingeladen hatte, zu dem er nicht kommen konnte.«
»Ist Ihre Schwester auch Schauspielerin gewesen?«, fragteMia Bradley, und Leon registrierte mit Besorgnis, dass sie die Vergangenheitsform gewählt hatte.
»Sie hat Tanz studiert«, antwortete er ausweichend. »Ballett.«
Die Miene seiner Gesprächspartnerin blieb unbewegt. »Das ist ziemlich hart, hm?«
»Ja.« Sprachen sie tatsächlich immer noch übers Ballett? Nur übers Ballett? »Ziemlich.«
Mia Bradley zündete sich eine neue Zigarette an und setzte dann die Arbeit an ihrer Skulptur fort. Ihre Hände waren groß und ungepflegt, aber sie bewegte sie mit sanfter Eleganz. »Das Telefon hat geläutet, damals«, sagte sie nach einer Weile. Es klang beiläufig.
»Sie meinen, in der Mordnacht?«
Sie antwortete nicht. Die Kuppen ihrer Daumen glitten über den Ton, zielsicher und mit äußerster Konzentration.
»In der Nacht, in der Ihre Eltern ermordet wurden, haben Sie das Telefon läuten hören?«
»Sie war nicht meine richtige Mutter.«
Da hast du's!, triumphierte der allgegenwärtige Kevin.
»Also schön«, korrigierte Leon sich widerwillig. »Sie haben also das Telefon gehört in der Nacht, in der Ihr Vater und Ihre Stiefmutter ...«
»Ihr Name war Bresson«, fiel Mia Bradley ihm ins Wort. »Jacqueline Bresson.«
Hat mich damals maßlos gestört, dass sie alle so nannten ...
»Warum beantworten Sie nicht einfach meine Frage?«
Nun blickte Mia Bradley doch wieder einmal für ein paar Sekunden auf, und Leon hatte den unbestimmten Eindruck, dass sie amüsiert war. »Das Te-le-fon hat in der Mordnacht ge-klin-gelt«, sagte sie dezidiert.
»Wann genau?«
»Gegen Viertel nach zehn, schätze ich.«
»Hatten Sie schon geschlafen?«
»Ja.«
Sie lügt, dachte Leon, in diesem Punkt lügt sie mich an. »Sie sind also in Ihrem Zimmer gewesen«, resümierte
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