Blut Von Deinem Blute
Kunst.« Er trat dicht hinter sie. »Aber Tonia hat mir vor kurzem freudestrahlend erzählt, dass ihre Therapeutin ihr rät, ein entsprechendes Studium ins Auge zu fassen. Als langfristige Perspektive.«
Kunst studiert man nicht. Kunst macht man einfach . ..
»Gestern hat sie mir nun ein paar Fotos ihrer Arbeiten geschickt, und ich ... Ich habe einfach Angst, dass sie sich falsche Hoffnungen macht, verstehen Sie?«
Mia Bradley drehte sich zu ihm um und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ihrer Jeans ab. »Okay, lassen Sie mal sehen.«
Er hielt ihr das Handy hin. »Die Aufnahmen sind leidernicht besonders gut«, bemerkte er, doch sie wischte den Einwand mit einer knappen Geste vom Tisch.
Sie begutachtete jedes Foto eingehend, blätterte mit zusammengekniffenen Augen vor und zurück, hielt das Handy ein Stück weiter von sich weg und runzelte die Stirn. »Hm«, machte sie, als sie nach einem zweiten Durchgang wieder bei der letzten Arbeit, einem surrealistisch anmutenden Mädchenkopf, gelandet war.
»Meine Schwester kann es sich nicht leisten, noch einmal Schiffbruch zu erleiden«, hörte Leon sich sagen, bevor er etwas dagegen unternehmen konnte. »Ich fürchte, das würde sie nicht mehr wegstecken, und wenn sie ...«
»Es ist nicht so, dass sie kein Talent hätte«, unterbrach ihn Mia Bradley, und ihre Miene war sehr ernst. Streng beinahe. »Aber sie malt nur, was sie sieht. Nicht, was sie fühlt.« Sie gab ihm das Handy zurück und blickte auf ihre Plastik hinunter. Die sitzende alte Frau. »Sagen Sie ihr, so wird das nichts.«
Als Leon die Tür hinter sich zuzog, musste er an ein Zitat von Oscar Wilde denken, das in der Garderobe seines Vaters gehangen hatte, direkt über dem Schminkspiegel: »Alle Kunst ist zugleich Schleier und Tiefe. Wer den Schleier aufhebt, wer die Tiefe erforscht, tut es auf eigene Gefahr.«
5
Laura betrachtete das imposante Eingangsportal von St. Andrews, auf dessen Pfeilern zwei steinerne Ananas prangten. Ananas oder Tannenzapfen – was das betraf, war sie schon als Kind nicht sicher gewesen.
Der Schulhof war verwaist und regennass, doch in einigen Klassenzimmern brannte Licht. An den Scheiben klebten bunte Tiere aus Transparentpapier. Fische und Seesterne. Und sogar Quallen mit langen Tentakeln. Die Bücherei befand sich, wie Laura wusste, im ersten Stock eines der beiden Nebengebäude. Als sie die schwere Glastür aufstieß, schlug ihr ein typischer Schulgeruch entgegen: Kaugummi und Schweiß, faulige Äpfel und jede Menge Staub. Das graue Linoleum zu ihren Füßen wirkte vernachlässigt und war übersät mit Striemen von Gummisohlen.
Ihr Blick glitt über eine Reihe von Spinden. Dahinter führte eine Treppe in die oberen Stockwerke.
Die Bibliothek lag am Ende des Flurs.
Laura drückte auf die Klinke, doch die Tür war verschlossen.
Sie hatten längst zu. Sie wusste das . ..
Laura konsultierte die Liste mit den Öffnungszeiten. Drei Vormittage die Woche. Und freitags bis fünf.
Das Fenster war geschlossen, flüsterte Claire Bishops Stimme. Und da war doch diese Treppe . ..
Sie wandte den Kopf und tatsächlich: Neben der Tür zur Bibliothek befand sich eine kleine Nische. Zwei Stühle standen dort. Und ein bekritzelter Tisch. Dahinter befand sich ein schmales Fenster.
Zögernd machte Laura einen Schritt darauf zu. Was mochte das nur für eine Begebenheit gewesen sein, die sich derart tief in Claire Bishops verwahrlostes Gedächtnis gebrannt hatte? Was hatte ein böses Kind mit einem geschlossenen Fenster zu tun? Beherzt fasste sie nach dem Griff und stieß das Fenster auf. Dann lehnte sie sich hinaus.
Unter ihr lag ein Hof, geteert und dämmrig, nicht der eigentliche Pausenhof, aber doch ein daran anschließender Teil. Und direkt unter dem Fenster ... Laura erstarrte. Direkt unter ihr befand sich eine Treppe! Sie beugte sich noch ein Stück weiter vor und konnte tief unter sich eine Reihe steiler Stufen sehen, die irgendwo im Dunkel endeten.
Sie muss ihn überredet haben. Sie konnte ihm nicht mehr helfen ...
»Passen Sie auf, dass Sie nicht rausfallen Ma'm!«, ertönte eine Männerstimme dicht hinter ihr. »Ist 'ne verdammt blöde Ecke da!«
Laura ließ die Fensterbank los und fuhr herum. Hinter ihr stand ein hagerer Mann um die sechzig und kaum größer als sie selbst. Er trug eine dunkelblaue Arbeitshose und hielt einen Werkzeugkoffer in der Hand.
»Wollen Sie was zurückgeben?«, fragte er, indem er mit dem Kinn auf die geschlossene Bibliothekstür
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