Blut Von Deinem Blute
verstehen.«
Leon fixierte ihre Augen, deren tiefes Blau bei allem Amüsement an diesem Morgen trübe wirkte. Überschattet von etwas, das er beim besten Willen nicht deuten konnte. »Heute früh hat man die Leiche von Conchita Perreira im Sir Winston Churchill Memorial Park gefunden«, bemerkte er, indem er sich von ihren Augen losriss und langsam um eine mannshohe Skulptur herumging, die in der Ecke hinter der Staffelei stand. »Jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten.« Er blieb hinter der Skulptur stehen. »Mit einem Messer.«
»Die meisten Menschen bevorzugen die Frontalansicht«, stellte Mia Bradley mit undurchdringlicher Miene fest.
»Was?«
»Beim Betrachten von Skulpturen.« Sie zuckte die Achseln. »Egal ob klassisch oder modern, die Leute sehen sich das Ding von vorn an, übrigens auch dann, wenn man ihnen die Möglichkeit bietet, um das Objekt herumzugehen.«
»Tatsächlich?«
Mia Bradley nickte. Dann kehrte sie an den Tisch zurück, an dem sie bei Leons Eintreten gestanden hatte. »Eigentlich komisch, wenn man bedenkt, dass wir im wahren Leben fast ausschließlich den verschiedensten Seitenansichten ausgesetzt sind.« Sie kräuselte verächtlich die Lippen. »Trotzdem gucken alle immer von vorn.«
»Ich nicht«, sagte Leon.
»Nein.« Sie griff nach einer Schachtel Zigaretten, die auf einem rohen, an der Wand hinter dem Tisch angebrachten Bord lag. »Sie nicht.«
»Haben Sie gehört, was ich eben erzählt habe?«
»Ja.«
»Und was sagen Sie dazu?«
Sie nahm eine Packung Streichhölzer aus der Tasche ihrer Jeans. »Was soll ich dazu sagen?«
Sie könnte hübsch sein, dachte Leon. Wenn sie wollte, wäre sie eine Schönheit. »Die Frau, die vor fünfzehn Jahren zwei Leichen in der Küche Ihres Elternhauses gefunden hat, ist gerade auf exakt die gleiche Weise ermordet worden wie damals Ihre Stiefmutter.«
»Tja, Pech für sie.« Mia Bradley riss ein Streichholz an und entzündete ihre Zigarette. Sie starrte in die Flamme, bis das Zündholz fast heruntergebrannt war. Dann warf sie es in einen Eimer mit Wasser, der unter dem Tisch stand.
»Ich könnte mir vorstellen, dass der Mord an Conchita Perreira bei den ermittelnden Beamten gewisse Assoziationen weckt.« Leon machte eine Pause, doch Lauras Schwester reagierte nicht. »Und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis man sich wieder für die alten Geschichten interessiert, meinen Sie nicht?«
»Na und?« Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war selbstbewusst, fast herausfordernd. »Glauben Sie etwa, das sei mir nicht recht?«
Doch Leon hütete sich, die Frage zu beantworten.
»Sie vergessen eines«, in Mia Bradleys Augen trat ein neuer Ausdruck. »Der Mörder meines Vaters läuft seit fünfzehn Jahren frei rum, weil es letztendlich niemanden wirklich interessiert hat, was damals gewesen ist. Und wissen Sie, warum es keinen interessiert hat?« Sie blies eine Rauchwolke in die Luft. »Weil sie sich alle nur allzu bereitwillig darauf geeinigt haben, dass ich es war. Aber ich war's nicht.«
»Das haben Sie mir schon einmal gesagt.«
»Weil es wahr ist«, versetzte sie. »Nur leider interessiert das niemanden.«
In diesem Punkt irrst du dich, dachte Leon. Einen ehemaligen Kriminalbeamten hat es so sehr interessiert, dass er hier gewesen ist, um dich zu sehen. »Vielleicht interessiert es mich.«
Mia Bradley zog das Tuch von einem Klumpen Ton, dem sie eine Form gegeben hatte, die an eine sitzende alte Dame erinnerte. »Warum sollte es das?«
In diesem Moment war Leon heilfroh, dass sie ihn nicht ansah. »Vielleicht weil ich was gegen Widersprüche habe.«
Jetzt schaute sie sich doch wieder um und musterte ihn lange und intensiv. »Wenn ich was gegen diese hysterische Kuh gehabt hätte, hätte ich sie schon vor fünfzehn Jahren erledigt.«
»Ja.« Leon lehnte sich gegen den Schreibtisch. »So ähnlich sehe ich das auch.«
Sie schob sich die Zigarette in den Mundwinkel. »Das heißt, Sie glauben mir?«
Wenn ich das wüsste, dachte Leon.
Mia Bradley schien sein Schweigen als Antwort zu werten und wandte sich mit einer abfälligen Geste wieder der Plastik auf ihrer Arbeitsplatte zu. Der alten Frau. Leon beobachtete ihren Rücken, der sich über den Tisch rundete, während sie arbeitete. Ein schmaler Rücken, zart beinahe.
Der Gerichtsmediziner nannte es Probeschläge . ..
»Hatten Sie einen Streit mit Ihrem Vater, ein paar Tage, bevor er ermordet wurde?«
Mia Bradley blies einen Schwall Rauch in die Luft. »Keine Ahnung, wir hatten
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