Blut Von Deinem Blute
zuzumuten, obgleich sie nach dieser Nacht liebend gern eine Tasse Kaffee getrunken hätte. Ihre Finger zupften an der staubigen Gardine. Was sollte sie tun? Hier am Fenster stehen und darauf warten, dass es Mia endlich einfiel, aus der Scheune zu verschwinden, damit sie sich dort umsehen konnte? Sie sah auf die Uhr. Wie lange dauerte es eigentlich, ein wirres buntes Bild zu malen? Einen Tatort zu verwüsten? Einen Menschen abzuschlachten?
Nein, dachte Laura, die Zeit des Wartens ist endgültig vorbei!
Sie stellte ihre leere Tasse in die Spüle und verließ die Küche. Sie würde die Zeit, die ihre Schwester noch in ihrem Atelier zubrachte, sinnvoll nutzen! Irgendwann in der Nacht war sie zu dem Schluss gekommen, dass das Werkzeug,mit dem sie vor drei Tagen ins Schlafzimmer ihres Vaters eingebrochen war, nur bedingt dazu taugte, die dicken Bretter zu bezwingen, mit denen Mia das Fenster an der Längsseite der Scheune vernagelt hatte. Also würde sie etwas besorgen, das besser geeignet war. Einen Vorschlaghammer vielleicht. Oder noch besser: eine Axt!
Höchste Zeit, dass wieder ein Beil ins Haus kommt, was, Josh?, dachte sie mit einem müden Lächeln. Dann nahm sie ihre Tasche von der Kommode in der Halle und ging zur Tür. Sie würde brauchbares Werkzeug besorgen und bei dieser Gelegenheit auch gleich in St. Andrews vorbeigehen. Alles, was sie brauchte, war ein Beweis für Mias Schuld. Das Messer war eine Möglichkeit. Die Bücherei, von der Claire Bishop gesprochen hatte, war eine andere.
4
Leon wollte unbedingt noch einmal mit Mia Bradley sprechen, bevor er im Zuge der Ermittlungen nicht mehr an sie herankam. Hearing hatte ihn ohne weitere Fragen gehen lassen und es noch nicht einmal für nötig gehalten, ihn ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass er die Insel bis auf weiteres nicht verlassen dürfe. Trotzdem wusste Leon, dass ihm die Zeit davonlief. Er versuchte es an der Vordertür, und als hier niemand öffnete, ging er außen um das Herrenhaus herum, zur Scheune.
Denselben Weg ist Mia Bradley auch gegangen, dachte er, während seine Augen ein paar krank aussehende Rosenbüsche streiften. Am Morgen nach dem Mord ist sie diesenWeg gegangen, anstatt die Hintertür zu nehmen, wo sie auf die Leichen ihrer Eltern gestoßen wäre ...
Die Tür zur Scheune war nur angelehnt. Mia Bradley stand an einem ausladenden Tisch, halb abgewandt, und rührte mit einem schweren Mörser in einem marmornen Tiegel herum. Als sie Leon kommen hörte, drehte sie den Kopf.
»Sieh an, der Historiker.« Ihre Augen zwinkerten vergnügt. »Na los doch, kommen Sie rein.«
Leon folgte dieser unerwartet unkomplizierten Aufforderung bereitwillig. Das Atelier war geräumig, weit größer, als es von außen wirkte, allerdings auch recht düster. Bis auf ein paar nachträglich eingebaute Oberlichter hatte die Scheune keine Fenster, doch Mia Bradley hatte sich mit Scheinwerfern beholfen, wie Leon sie vom Theater kannte, und ihm fiel ein, dass man sie Verfolger nannte. Je zwei davon standen in den beiden dem Herrenhaus zugewandten Ecken, waren jedoch nicht eingeschaltet. In der Mitte des Raumes hatte Mia Bradley eine riesige schwarze Plastikplane ausgebreitet, rechts davon erhob sich eine imposante Staffelei. Von dem Bild, das darauf stand, nahm Leon zunächst nichts als einen farblichen Eindruck wahr. Blau überwiegend. Aber auch die verschiedensten Grau- und Grüntöne. Er vermochte nicht zu sagen, was das Bild darstellte, aber zu seiner eigenen Verwunderung störte ihn diese Tatsache überhaupt nicht. Zu eindrücklich war das Farbspiel, zu faszinierend die kräftige und zugleich seltsam weltentrückte Dynamik, die dem Gemälde innewohnte.
»Wie ich sehe, gefällt es Ihnen.« Mia Bradley war hinter ihn getreten, ohne dass er sie bemerkt hätte.
»Ja«, sagte Leon schlicht. »Hat es einen Namen?«
Mia Bradley grinste. »Nummer vierzehn.«
»Aha.« Leon trat einen Schritt zurück.
»Und verraten Sie mir auch, was Sie in diese lösungsmittelverseuchte Höhle führt?«
»Vielleicht wollte ich einfach mal einen echten Nilou sehen.«
Sie sah ihn an. Überrascht zuerst. Doch dann wich die Überraschung einem belustigten Lächeln. »Kompliment«, sagte sie, indem sie sich in einer übertriebenen Geste vor ihm verneigte. »Da ich – verzeihen Sie, wenn ich ein bisschen direkt werde – nicht davon ausgehe, dass Sie sich in besonderem Maße für moderne Kunst begeistern, schließe ich, dass Sie tatsächlich was vom Recherchieren
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