Blut Von Deinem Blute
Lippen, während ihre Patentante geschäftig den Raum verließ. Sie wartete noch einige Augenblicke, dann stand sie auf und schüttete den Cognac ins Feuer, wo er zischend in Rauch aufging. »Ich werde dich nicht noch einmal in Gefahr bringen«, flüsterte sie Josh zu. »Du bist der einzige Lichtblick in einer Welt voller Alpträume.«
Ab welchem Alter ertrugen Kinder eigentlich den Anblick eines Raubtieres, ohne Angst zu bekommen? Oder setzte Angst zwingend ein Bewusstsein für die Gefährlichkeit eines Tieres oder einer Situation voraus? Was war die Wurzel der Angst, ihrer Angst, von Angst allgemein? Genügte es tatsächlich, eine Panzerglasscheibe oder ein paar Gitterstäbe zwischen sich und dem Raubtier zu sehen, um sich nicht zu fürchten?
Angst lässt sich nicht bannen, dachte sie, ohne zu wissen, wie sie das meinte. Nicht in einen Käfig. Und nicht auf eine Insel ...
Im selben Augenblick kam Cora mit einer grauen Strickjacke und einer Decke zurück, die sie Laura fürsorglich um die Beine schlang. »Besser?«, erkundigte sie sich mit sorgenvoller Miene.
Laura nickte, und es gelang ihr tatsächlich, das Zittern zu unterdrücken.
»Du solltest nach Hause fahren«, sagte Cora neben ihr. »Nach Deutschland, meine ich.«
Ich weiß genau, was du meinst, dachte Laura.
»Das, was im Augenblick hier vorgeht, ist einfach zu viel für dich, weil es alles wieder hochspült.«
»Vielleicht ist das nicht das Schlechteste ...«
Cora sah aus, als läge ihr eine Frage auf der Zunge. Aber sie war zu anständig, sie zu stellen. »Wenn du willst, gehe ich nachher bei deiner Schwester vorbei und hole deine restlichen Sachen«, sagte sie stattdessen.
»Nachher?«
»Oder ist es dir lieber, wenn ich hier bleibe?«
Laura hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
Ihre Patentante schien es zu merken und lächelte. »Das Meeting«, sagte sie. »Aber vielleicht möchtest du unter den gegebenen Umständen lieber nicht allein sein.«
Es klang eindringlich, doch in Laura regte sich sofort Widerstand. Sie brauchte keinen Aufpasser. Und auch keine Therapeutin. Sie brauchte einfach ein bisschen Ruhe, um ihre Gedanken zu ordnen. »Nein, geh ruhig«, sagte sie. »Ich komme schon klar.«
Bist du sicher?, wandte Coras Blick ein, doch sie sprach nicht aus, was sie dachte. »Aber du fliegst morgen zurück, ja? Nicht, dass du denkst, ich will dich nicht hier haben. Aber ich habe das Gefühl, dass es dir nicht gut tut, zu bleiben.«
»Ich kann nicht zurückfliegen«, hörte Laura sich sagen, bevor sie nachdenken konnte. »Warum nicht?«
»Ich besitze ja nicht einmal ein Foto von meiner Mutter«, argumentierte das Kind in ihr, und verwundert stellte Laura fest, dass dieses lächerliche Argument tatsächlich einer der Gründe war, warum sie bleiben wollte. Sie besaß kein Foto ihrer Mutter. Ihre einzige Strickjacke hing nach wievor im Herrenhaus. Und es war ihr auch noch immer nicht gelungen, das Messer zu finden, mit dem ihre Schwester zwei Menschen getötet hatte. Sie konnte nicht fort ...
»Na ja, dem kann leicht abgeholfen werden«, sagte ihre Patentante in diesem Augenblick, und Laura brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie von einem Foto sprach. Von einem Bild ihrer Mutter.
Cora stand auf und holte eine stoffbezogene Schachtel aus einem ihrer hohen Bücherregale. Dann knipste sie die Leselampe neben Lauras Sessel an und zog ein Foto heraus.
»Hier«, sagte sie, »dieses hat mir immer besonders gut gefallen.«
Die Aufnahme zeigte Louisa Bradley als junge Frau in einem hellen Sommerkleid, irgendwo am Strand vor Les Mielles. Sie lachte breit und unbeschwert, während eine leichte Brise den Rock ihres Kleides bauschte und dem Bild eine erstaunliche Lebendigkeit verlieh. Was für ein Unterschied zu ihrem Hochzeitsfoto, dachte Laura, den Tränen nah. Licht und Schatten, Leichtigkeit und Düsternis. Es war, als zeigten die Bilder zwei vollkommen verschiedene Frauen.
»Kann ich das wirklich behalten?«, fragte sie.
Ihre Patentante nickte. Doch sie sah nicht glücklich aus. »Ich finde ...« Sie unterbrach sich und blickte auf ihre Hände hinunter, die mit einer zweiten Fotografie spielten. Dann hob sie mit einem Mal den Kopf, als habe sie eine Entscheidung getroffen. »Ich finde, du solltest das hier auch gleich mitnehmen«, sagte sie und reichte ihrem Patenkind das Bild, das sie in der Hand gehalten hatte. Es zeigte einen Mann, den Laura noch nie gesehen hatte.
»Wer ist das?«
Cora seufzte. »Das ist dein Vater.« Laura
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