Blut Von Deinem Blute
vergrub sie, damit niemand sie fand.
Und jetzt raus hier! So schnell du kannst! Sonst kommt sie hier rauf und ...
Laura stutzte. Waren das nicht Schritte auf der Treppe? Das Knarren eines schweren, unförmig gewordenen Körpers auf den alten Dielen?
Mit wild pochendem Herzen steckte sie den Kopf aus der Tür und lauschte über den verwaisten Treppenabsatz. Keine Mia, keine Meerschweinchen, kein Schubert. Nur Dämmerlicht. Die abgewetzten roten Läufer. Der Staub in den Ecken. Dahinter die Treppe...
»Wir schaffen es«, flüsterte sie Josh zu. »Sei nur ganz still, okay?«
Dann rannte sie zur Treppe.
Mias Stimme war nicht mehr zu hören. Von unten drang beunruhigendes Schweigen herauf.
Sie wartet auf dich. Sie lauert. Sie besitzt diesen Radar, den alle Psychopathen haben. Denk daran, wie sie an dir herumgewittert hat, gestern Abend.
Laura riss ihren Trolley die Stufen hinunter. Dumpf krachten die Rollen von Stufe zu Stufe. Leise zu sein hatte keinen Zweck mehr, hatte nie Zweck gehabt.
Aber warum hatte Mia die Tür geöffnet? Sie ließ doch nie jemanden in ihr Haus. Nicht einmal Tante Cora.
Die Polizei!, fuhr es Laura durch den Sinn. Sie wagt es nicht, die Polizei im Regen stehen zu lassen. Sie weiß, dass sie ihr diesen Mist mit dem Atelier nicht noch einmal abkaufen. Sie steht genauso mit dem Rücken zur Wand wie ich. Eines der Mädchen, ja. Aber das andere. Nicht ich. Ich bin unschuldig. Meine Schwester ist diejenige, die krank ist. Schon immer krank war ...
Ihre Füße nahmen die letzten Stufen in Angriff.
Mia war nach wie vor an der Tür. Bei ihr stand der Schatten, der geklingelt hatte. Aber es war nicht Madame Bresson, dieses Mal. Und auch nicht die Polizei. Es war Leon ...
»Wir müssen reden«, sagte er, als ihr Blick sein Gesicht erreichte.
»Nein«, entgegnete sie mit einer Stimme, deren Festigkeit sie selbst überraschte. »Das müssen wir ganz bestimmt nicht.«
Er stand so, dass sie nicht so ohne weiteres an ihm vorbeikam. Trotzdem versuchte sie es. Aber er packte sie am Arm. Viel grober, als er sie je berührt hatte. Sein Gesicht wirkte fahl, aber das konnte auch am schummrigen Licht der Halle liegen. »Es ist auch mein Kind«, wandte er mit brüchiger Stimme ein.
Sie sah ihm direkt in die Augen. »Nicht mehr lange.«
In seinen Pupillen zuckte es. Er hatte es längst geahnt. Geahnt, was sie vorhatte. »Heißt das, du willst ...«
»Ja, das will ich«, schrie sie ihm ins Gesicht. Und alle Wut brach sich Bahn in diesem Augenblick. »Und es gibt nichts auf der Welt, womit du das verhindern kannst.«
»Du bist schwanger?« Das war Mia. Irgendwo in ihrem Rücken.
Doch Laura antwortete nicht. Sie machte ihren Arm los und zerrte ihren Koffer hinter sich her, hinaus auf die düstere Gasse. Sorgfältig setzte sie einen Schritt vor den anderen. Links. Rechts. Wieder links. Sie fühlte nichts. Keine Angst. Keine Erleichterung, dass sie es geschafft hatte, ihrem Elternhaus zu entkommen. Nur das Geräusch ihrer Schritte, die sie im Kopf leise mitzählte wie die Sekunden in ihrem Traum.
1
»Kann ich heute bei dir übernachten? Ich ... Ich halte es einfach nicht länger aus.«
Cora Dubois' Augen wanderten vom regennassen Gesicht ihres Patenkindes hinunter zu dem Koffer, der neben Laura auf der Schwelle stand. Schließlich nickte sie nur und trat einen Schritt beiseite. Ohne Fragen zu stellen. Und ohne Kommentar.
In der Diele roch es angenehm nach Obst und frisch gewaschener Wäsche, und zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr auf die Insel empfand Laura einen Anflug von Heimatgefühl.
Cora drückte sie in den tiefen, gemütlichen Sessel, der vor dem Kamin stand und in dem sie schon als Kind so gern gesessen hatte. Dann entzündete sie mit geübten Handgriffen ein Feuer und verschwand für eine Weile in der Küche, während draußen vor dem Fenster bereits die Dämmerung hereinzubrechen schien. Zumindest erweckte der regenschwere Himmel den Eindruck.
Als sie zurückkehrte, umwehte sie der Duft von frisch geröstetem Brot. Sie stellte ein Tablett vor Laura auf den Tisch, liebevoll garnierte Sandwiches,Räucherfisch, Cream Tea und ein Teller mit Kuchen zum Nachtisch.
Verwundert stellte Laura fest, dass sie tatsächlich hungrigwar. »Danke«, war alles, was sie sagen konnte, ohne in Tränen auszubrechen. Dann aß sie. Schweigend und konzentriert. Als sie fertig war, schlang sie die Hände um die heiße Tasse und lehnte sich zurück.
»Willst du darüber reden?«
»Ich weiß
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