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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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muss eine Reise antreten, die nicht geplant war«, erklärte Leon, der sich nicht so einfach zufriedengeben wollte. »Mein Flieger geht in wenigen Minuten, und ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde.«
    Die Frau zögerte. »Also gut«, sagte sie dann. »Ausnahmsweise. Bleiben Sie dran, ich versuche es oben, auf Station.«
    »Danke.«
    Während er einer blechernen Vivaldi-Adaption lauschte, überlegte Leon, wie lange es her war, dass er zuletzt mit seiner Schwester telefoniert hatte. Drei Monate? Vier?
    »Leon?«, klang nur Sekunden später ihre atemlose Stimme aus dem Hörer. »Ist was passiert?«
    »Nein«, beeilte er sich, sie zu beruhigen. »Ich muss nur ein paar Tage weg und wollte hören, wie es dir geht, bevor ich fahre.«
    »Ach so.« Ihre Erleichterung war buchstäblich mit Händen zu greifen. »Wie geht's dir?«
    Dasselbe hatte ich dich gefragt, dachte Leon. Laut sagte er: »Danke, ich kann nicht klagen.«
    »Arbeitest du an einem neuen Buch?«
    »Im Augenblick nicht. Aber ich schreibe an einem Artikel über Fritz Ulmann.«
    »Wer ist das?«
    »Ein Neurologe, der Josef Mengele nach dem Krieg beim Untertauchen geholfen hat. Er hat ihm falsche Papiere besorgt. Außerdem hat sich Mengele von ihm wegen Depressionen behandeln lassen.«
    »Klingt spannend.«
    »Ist es auch.« Leon streckte die Füße aus.
    »Und wann soll das Ganze erscheinen?«
    Warum wurde er das Gefühl nicht los, dass seine Schwester alles tat, um von sich und ihrem Befinden abzulenken? »In zwei Monaten, wenn alles glatt geht.«
    »Klasse ...« Kurze Pause. Anscheinend gingen ihr allmählich die Fragen aus. »Und was machen die Kinder?«
    Er lachte. »Ich habe keine.«
    »Nicht?« Seine Schwester lachte auch. »Na, dann wird's aber langsam mal Zeit, findest du nicht?«
    So eine Bemerkung hätte sie früher nicht gemacht, dachte Leon, nicht mal im Scherz. So gesehen schien die Klinik sie indiskreter zu machen. Vielleicht, weil sie dort ununterbrochenauf den eigenen Traumata herumkauten. »Wieso Zeit?«, gab er zurück. »Ich bin doch sozusagen noch taufrisch.«
    »Das träumst du.« Sie lachte wieder. »Hast du wenigstens endlich eine feste Freundin?«
    Leons Augen folgten einem startenden Flugzeug, das sich in den grauverhangenen Himmel erhob. Diese Frage müsste ich wohl eigentlich bejahen, dachte er, aber er war keineswegs sicher ...
    »Oder einen festen Freund?«, setzte seine Schwester, die sein Zögern missdeutet hatte, eilig hinzu.
    Wie wenig wir doch voneinander wissen, dachte Leon erschüttert. »Na ja«, sagte er leichthin, »du weißt doch, dass ich nie so ganz von Kevin losgekommen bin.«
    »Schon klar«, versetzte sie.
    »Was ist klar?«
    »Du willst nicht darüber reden.«
    »Es gibt nichts zu reden«, log er eilig. »Bei mir ist alles wie immer. Die weitaus interessantere Frage ist: Wie geht es dir?«
    »Gut.«
    Er nickte. Seit ihrem Zusammenbruch gab Tonia diese Antwort, wann immer man sie nach ihrem Befinden fragte, und er hatte bereits vor langer Zeit aufgehört, ihr irgendeine Bedeutung beizumessen. Es hatte auch vor dem Zusammenbruch keinerlei Alarmsignale gegeben, die auf die drohende Gefahr hingewiesen hätten. Zumindest hatte er keine bemerkt – ein Versäumnis, das er sich bis heute nicht so recht verzeihen konnte. Das Ergebnis war, dass er seiner Schwester nur noch äußerst bedingt traute. »Und wie läuft die Therapie?«
    »Mal so, mal so.« Beruhigende Antwort! »Kommt ihr voran?«
    Zögern. »Das ist schwer zu sagen, weißt du.« Äußerst beruhigende Antwort!
    »Es dauert lange, bis es einem gelingt, bestimmte festgefahrene Mechanismen zu durchbrechen«, sagte sie nach einer Weile, und es klang wie auswendig gelernt. »Aber das Malen hilft mir sehr.«
    Leon horchte auf. »Du malst?«
    »Ja, ziemlich viel.«
    »Wow.« Das war doch mal ein Lichtblick! »Und was malst du? Porträts?«
    »Auch.«
    So sparsam ihre Antworten ausfielen, ihm entging nicht das plötzliche Leuchten in ihrer Stimme. Während der ganzen Zeit, die seine Schwester nun schon in der Klinik zubrachte, hatte sie – wenn überhaupt – nur von Einzelsitzungen, Gruppensitzungen, Ernährungsseminaren und sonstigen therapeutischen Maßnahmen erzählt. Ihr generalstabsmäßig durchgeplanter Tagesablauf schien ausschließlich aus Gesprächen, Essen, Wiegen und Gymnastik zu bestehen, und Leon hatte immer befürchtet, dass dabei eines Tages ihre Kreativität auf der Strecke bleiben würde. Das, was ihr Leben bestimmt hatte, bevor sie in die

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