Blut will Blut
Proben des Tages nicht mehr gestört hatte, war Spraggue doch
drauf und dran, der Schrift auf Eddies Wand zuzustimmen: Die Aufführung mußte
abgesetzt werden. Zumindest bis er die Karriere jedes Schauspielers bezüglich Macbeth untersucht hatte. Karen wartete ungeduldig auf ihn. Sie trug dieselbe dunkle
Hose und das T-Shirt, das sie den ganzen Tag angehabt hatte. Er fragte sich, ob
sie je Pause machte, ob sie zu Mittag oder Abend gegessen hatte.
«Tut mir leid», sagte er, als
er mit zwei großen Schritten die sechs Stufen aus dem Zuschauerraum zur Bühne nahm.
«Ich habe nichts Besseres vor»,
antwortete sie trocken, legte ihr Klemmbrett aus der Hand und stand auf.
«Ich weiß, wieviel Sie zu tun
haben müssen...», fügte Spraggue entschuldigend hinzu.
«Und deshalb sind Sie auch zu
spät gekommen», beendete sie seinen Satz.
Spraggue zuckte mit den
Achseln. Er dachte nicht daran, sich nur wegen ein paar lausiger Minuten
zweimal zu entschuldigen. Die dunklen Augen der Inspizientin funkelten, aber ob
das nun versteckter Humor war oder Wut, konnte er nicht sagen. Das gelassene
Gesicht der Frau verriet nur wenig.
Sie scheuchte ihn durch die
Szenen wie ein Football-Trainer, der es darauf abgesehen hatte, einen Neuling
zu beeindrucken. Sie war keine Schauspielerin, aber sie gab ihm überlegt mit
einer herzlichen, tiefen Stimme seine Stichworte. Sie verstand ihr Handwerk;
sie hatte Positionen und Standortwechsel bis auf die Sekunde genau getimt,
besonders jene, die mit technischen Effekten zusammenfielen.
Nach anderthalb Stunden gab sie
ihm fünf Minuten Pause, fügte ein unwirsches «Nicht schlecht» und ein
geheimnisvolles Lächeln hinzu, bei dem Spraggue fand, daß er es gern öfter
sehen würde.
Er warf einen traurigen Blick
auf die Requisitenstühle mit ihren geraden Rückenlehnen und streckte sich auf
den harten Brettern der Bühne aus, bedauerte das Textpauken, das ihn den
größten Teil der vergangenen Nacht gekostet hatte. Karen arbeitete weiter.
Spraggue lauschte auf ihre Schritte in den Kulissen, zählte das Knacken und
Schlagen, während sie Gegenstände herumschob. Sie brummte leise vor sich hin
und hakte Positionen auf ihrem allgegenwärtigen Klemmbrett ab.
Spraggue starrte zur Decke der
Bühne, die etwa drei Stockwerke hoch war. Er hatte das Gefühl, in einem offenen
Kamin zu liegen und einen Schornstein hinaufzustarren. Ein riesiger
Schornstein: achtzehn, zwanzig Meter breit, zehn Meter hoch. Und ganz oben
konnte er kaum das Metallgitter des Rostes erkennen. Der Raum unterhalb des
Rostes war vollgepackt; Stangen voller Instrumente und Kabel wechselten sich ab
mit Teilen der Kulisse. Acht Hängestücke teilten den Raum, und jedes Hängestück
bestand oben aus einem langen, über die gesamte Breite der Bühne führenden
Eisenrohr. An jedes dieser Rohre gebunden, leise in der Luft raschelnd und
herabhängend, ein Teil des Bühnenbildes. Spraggue erkannte einen steinernen
Turm von Schloß Dracula, einen schimmernden Kronleuchter aus Dr. Sewards
Wohnzimmer.
«Vorsicht!» keuchte Spraggue
und hatte sich aufgesetzt, noch während er sprach. Der Kristallkronleuchter war
plötzlich anderthalb Meter heruntergesackt, bevor er mit einem Ruck wieder zur
Ruhe kam, der die Kristallfäden klimpern ließ.
«Sorry.» Karens Stimme drang
gedämpft durch mehrere Meter Vorhang, der die Kulissen von der Bühne trennte.
«Ich überprüfe gerade nur die Gegengewichte.»
«Sollten Sie mich nicht
normalerweise vorher warnen, bevor Sie die Lampe auf mich herunterkrachen
lassen? ‹Achtung› oder so?»
Karens Lachen perlte durch den
Vorhang. «Wir im Theater sagen ‹Kopf›. Kurzform von ‹Kopf hoch›. Sie erinnern
sich?»
«Ja», erwiderte Spraggue. «Eine
gute Haltung ist schrecklich wichtig, bevor man einen Schlag ins Gesicht
kriegt.»
«Ich würde mir darüber keine
Sorgen machen. Wenn eines dieser Seile reißen sollte, hätten Sie nicht mal eine
Chance zu schreien.»
«Sehr beruhigend.»
«Keine Angst.» Karen tauchte
aus den Kulissen auf und streckte sich neben Spraggue auf dem Boden aus. «Das
Seil ist auf eine Belastung von zwei Tonnen getestet. Nicht billig, das Zeug.
Außerdem besitzt dieses Theater mit die besten Prospektzüge, die ich je gesehen
habe.»
«Und wieso ist der Kronleuchter
dann ein Stück abgesackt?»
«Nicht richtig ausbalanciert.
Ich habe die Seilklemme gelöst. Wenn das Gewicht auf der Lafette...»
«Lafette?»
«Das Ding hinter der Bühne, das
aussieht wie Stapel von Goldbarren
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