Blutberg - Kriminalroman
vierundzwanzig Stunden. Kaum hatte sein Kopf jedoch das Kissen berührt, als ihm ein neuer Gedanke durch sein gequältes Hirn schoss.
War es nicht beinahe undenkbar, dass Björn allein hinter dem Ganzen stand? Und selbst wenn er das getan hätte, da würde doch sehr wahrscheinlich bald jemand an seine Stelle treten. Jemand, der sehr genau wusste, wie alles gelaufen war, und davon ausging, dass er weiterhin zur Verfügung stand.
Trotz des Pyjamas und der Bettdecke die er bis zum Kinn hochgezogen hatte, zitterte er am ganzen Körper bei dem Gedanken, dass er wahrscheinlich weit davon entfernt war, den Kopf aus der Schlinge gezogen zu haben; und kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, als sich ihm eine weitere und noch unerquicklichere Möglichkeit aufdrängte: Was, wenn es gar kein Unfall gewesen ist, wie ihm heute Nachmittag von verschiedenen Seiten angedeutet worden war?
Viktor argwöhnte ebenfalls, dass Björn womöglich Konkurrenz gehabt hatte. Aufgrund des beträchtlichen Umfangs dieser Aktivitäten war sich Viktor jedoch ziemlich sicher, dass er die größten Marktanteile gehabt haben musste, wie es in der Wirtschaftswelt heißt. Eine marktbeherrschende Position, lautet die klischeehafte Phrase nicht so? Eine Konkurrenz, die nicht mit ihrem Marktanteil zufrieden war, würde sich aber gewiss nicht beim Kartellamt beschweren. Leute in dieser Branche kannten andere Mittel und Wege, um da Abhilfe zu schaffen, glaubte Viktor. Und wenn das kein Unfall gewesen
war, wer würde dann noch behaupten wollen, dass die - wer auch immer sie waren - es dabei bewenden ließen? War es nicht genauso wahrscheinlich, dass er selber als Nächster auf der Abschussliste stand? Oder dass der Konkurrent unter Androhung von Enthüllungen denselben Service von ihm verlangte?
Viktor versuchte, diesen Gedanken von sich wegzuschieben. Er war absurd, überlegte er, total absurd. Er wusste, dass es in dieser Welt hart zuging, er las Zeitung, er hörte Storys. Aber das hier war weder New York noch Amsterdam. Nicht einmal Kopenhagen, sondern nur Klein-Island. Ihm war es egal, was die Leute über die Internationalisierung der Kriminalität redeten, dass Island inzwischen keineswegs vor internationalen Verbrecherbanden sicher war, sogar in Reykjavík liefen die Dinge nicht so, und erst recht nicht hier oben im Hochland. Allerdings war das Dorf, das hier in der Wildnis aus dem Boden gestampft worden war, ziemlich international und die Zusammensetzung der Bewohner durchaus ungewöhnlich. Er hatte die Tätowierungen bei manchen gesehen, die zu ihm kamen, diese kleinen, die entweder direkt am Handgelenk waren oder auf dem dünnen Hautlappen zwischen Daumen und Zeigefinger, und er wusste auch, was sie zu bedeuten hatten. Die Leih-Agenturen, die Impregilo die billigen Arbeitskräfte vermittelten, machten offensichtlich ein einwandfreies Führungszeugnis nicht zur Bedingung, so viel stand fest. Und trotzdem … Er wälzte sich auf die andere Seite.
Eine halbe Stunde später kapitulierte er, sprang aus dem Bett, zog sich den Winteroverall über den Pyjama, stieg barfuß in seine dicken Stiefel und rannte nach draußen. Sämtliche Fenster des Jeeps waren dick verschneit und vereist. Er fluchte ein paar Sekunden unentschlossen vor sich hin, entschied sich dann aber dafür, zu Fuß zur Krankenstation zu gehen, statt das Auto abzukratzen. Obwohl er sich an die Straße
hielt, musste er durch tiefe Wehen waten. Und der wild stiebende Schnee, der ihnen beständig Nachschub lieferte, drang auch in seine nachlässig geschnürten Stiefel und die Halsöffnung des Overalls, denn er hatte seinen Schal vergessen. Als sich Viktor endlich zur Krankenstation durchgekämpft hatte, zitterte er am ganzen Körper und kam zu dem Schluss, dass Cognac wenig nutzen würde.
Deswegen ging er zum Arzneischrank, streckte seine Hand nach dem Glas mit Zopiklon aus und hatte seine liebe Müh und Not mit dem Verschluss. Als er ihn endlich aufbekam, schüttelte er zwei Tabletten heraus, zögerte, gab eine wieder zurück ins Glas und schluckte die andere. Als er die Außentür wieder öffnete, wirbelte der Schnee hoch, und für einen Augenblick wurde er geblendet.
»Verdammt«, sagte er laut, »nicht noch mal das Ganze.« Er schloss die Tür wieder, zog sich Schuhe und Overall aus und legte sich in eines der Krankenbetten. Björg wird sich morgen früh wundern, dachte er, ich muss mir irgendeine Erklärung ausdenken. Er schlief ein, bevor er diesen Vorsatz ausgeführt hatte,
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