Bluteis: Thriller (German Edition)
Altschnee herausgeschmolzen war. Er zog die Ski aus und versuchte mit den Händen zu graben, doch der Schnee war zu hart. Er nahm den Rucksack ab, öffnete ihn und entnahm ihm die auf Skitouren obligatorisch mitzuführende zweiteilige Lawinenschaufel aus Aluminium. Er steckte Schaft und Schaufel zusammen und brach den Harsch rund um die Jacke auf.
»Das ist ein Toter!«, rief er seinem Begleiter zu.
Denninger fluchte, kam näher und betrachtete sich den Fund. Der Kopf des Mannes war in einem skurril anmutenden Neunzig-Grad-Winkel nach hinten gekippt. Vorsichtig kratzte Thien Baumgartner den Schnee vom Gesicht des Mannes.
Denninger hatte ebenfalls bereits die Ski ausgezogen, kniete sich neben den Toten und versuchte, das zugefrorene rechte Augenlid zu öffnen.
»Was machst du?«, wunderte sich Thien.
Denninger antworte nicht. Schließlich öffnete er sein Schnappmesser und schabte das Lid einfach ab.
»He, was machst du?«, rief Thien erneut.
Das bernsteinfarbene Auge des Toten starrte leer in den blauen Himmel über ihnen.
»Scheiße, verdammte Scheiße. Hab ich’s mir doch gedacht. Verfluchter Scheißdreck!« Er konnte mit dem Fluchen kaum aufhören.
»Was ist los?« Thien verstand nicht ansatzweise, was mit Denninger los war.
»Ich hab dir gesagt, wir haben auf euch aufgepasst. Na ja, einmal ist Sandra ihrem Aufpasser davongelaufen. Er hat sie verloren, als sie eine Skitour gegangen ist. Das war hier an diesem Berg. Und an diesem Tag muss etwas passiert sein. Denn Sandra war danach anders, hat sich immer wieder misstrauisch umgedreht und umgeschaut. Das hier, dieser Typ hier ist ihr passiert. Er ist ihr über den Weg gelaufen. Und sie hat ihn erkannt. Anscheinend hat ihn dabei eine Lawine erwischt.«
»Wobei?«
»Als er Sandra auf den Fersen war.«
»Aber warum … warum war er ihr auf den Fersen?«, fragte Thien verwirrt. »Und wer ist das, verdammt noch mal? Du sagst mir jetzt alles, was du weißt, oder …«
»Oder?«
»Ich hab’s verdient, die Wahrheit zu erfahren, oder?«
Markus Denninger sah Thien Baumgartner lange an. »Ja, das hast du«, sagte er schließlich. »Aber … ich habe keine clearance. «
»Keine was?«, brüllte Thien. Er wäre Denninger am liebsten an die Gurgel gegangen. Doch er wusste, dass er im direkten Kräftemessen keine Chance gegen den Elitesoldaten hatte.
»Ich darf nicht!«, brüllte Markus Denninger zurück. »Ich kann dir nur eins sagen: Lass uns den Typen zuschaufeln und schnellstmöglich abhauen von hier!«
»Einen Scheißdreck machen wir! Du erzählst mir jetzt, was hier los war! Oder ich hau dem Typen mit der Schaufel den Zeigefinger ab und bring ihn zur Polizei. Die werden mit seinem Fingerabdruck sicher was anfangen können!«
Denninger verzweifelte beinahe. Selbst wenn er gewollt hätte, er durfte nichts über diesen Mann erzählen. Und auch wenn er sich über das Verbot hinweggesetzt hätte, keine Silbe hätte seinen Mund verlassen, denn er war einfach nicht in den Lage, darüber zu sprechen. »Tu, was du nicht lassen kannst«, murmelte er. »Du wirst nie ein Ergebnis erfahren. Aber was mit dir dann passiert, wissen die Götter.« Er zog seine Schaufel aus dem Rucksack und begann, Schnee über dem Toten anzuhäufen.
Thien sah eine Weile zu, dann begann er mitzuhelfen. »Aber eines Tages werde ich es erfahren, das weißt du so gut wie ich.«
»Ich? Ich weiß gar nichts«, sagte Denninger und schaufelte weiter.
Samstag, 23. März, 10 Uhr Ostküstenzeit
Long Island
In Manhatten merkte man nichts davon, dass der Frühling einkehrte, auf Long Island aber sprossen die Knospen der Magnolien und der Obstbäume.
Albert Sonndobler hatte Annemarie Käppli mit seiner Kreditkarte downtown gelassen. Er selbst war mit dem Lincoln der New Yorker Niederlassung seiner Bank vom Walldorf Astoria über den Broadway, durch Chinatown und schließlich über die Brooklyn Bridge gefahren. Der Chauffeur wollte ursprünglich die kürzeste Strecke über die Second Avenue und den Long Island Expressway nehmen und dann über die Interstate 495 durch den Tunnel, aber Sonndobler hatte ihn angewiesen, die romantische Route zu nehmen. Wenigstens diese Dreiviertelstunde am Samstagmorgen konnte er endlich einmal allein sein und seinen Gedanken nachhängen. Bei allem, was ihm bevorstand, war ungewiss, wann er sich das nächste Mal einfach nur eine Dreiviertelstunde nutzlos auf dem Rücksitz einer Limousine durch die Gegend gondeln lassen konnte.
Er dachte zurück, dass er irgendwann
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