Bluteis: Thriller (German Edition)
gegen den sternenklaren Himmel sah, bekannt vor. Natürlich, sie musste sie gesehen haben, als sie die Reise zu sich selbst angetreten hatte und zu diesem Gletscher gekommen war. Seltsam, dass sie sich daran nicht mehr erinnern konnte. Aber irgendwie kamen ihr diese Berge viel vertrauter vor, als wenn sie sie nur einmal gesehen hätte. Vielleicht gab es in ihrer russischen Heimat ähnliche Berge. Vielleicht hatte sie als Kind ein Buch gehabt, in dem diese Berge abgebildet gewesen waren. Es gab so vieles, was in einem schlummerte, verschüttete Erinnerungen aus der Kindheit. Sie würde Zeit haben, darüber nachzudenken.
Kisi setzte sich in gemächlichem Tempo in Bewegung und spurte den Berg hinauf.
Natalija genoss die klare Luft, die über dem Gletscher lag. Sie stieg in Kisis Spur und geriet kaum außer Atem, geschweige denn ins Schwitzen. Ihr Körper war an diese Tätigkeit sehr gut gewöhnt. Doch Kisi und sie mussten Rücksicht nehmen auf die älteren und unerfahrenen Tourengeher hinter ihnen. Die meisten hatten bis auf die wenigen Übungseinheiten selten oder nie Ski an den Füßen gehabt. Sie würden sich über die nächsten Wochen daran gewöhnen.
Die Kunststofffelle, die sie auf die Laufflächen der Ski geklebt hatten, sirrten in der frischen Spur den Berg hinauf. Sie kamen gut voran.
Donnerstag, 21. März, 9 Uhr 05 GMT –3
Über dem Atlantik, 450 Meilen nordwestlich von Neufundland
»Was hast du drunter an?«
»Albert, nicht hier!«
»Wieso, die Piloten sitzen vorn, und die Stewardess schläft hinten irgendwo. Die taucht erst wieder eine Stunde vor der Landung auf und bringt die heißen Tücher.«
»Man muss es nicht herausfordern, meinst du nicht?«
»Selbst wenn sie aufwacht: Meinst du, sie sagt es der New York Times? Vielleicht macht sie ja mit?«
»Idiot. Es ist schon schlimm genug, dass du hier darüber sprichst. Du weißt doch nicht, wer mithört.«
»Ach, Annemarie. Firmenflieger gehören zu den abhörsichersten Orten der Welt. Wir düsen knapp unterhalb der Schallgeschwindigkeit über den Atlantik. Wer soll uns da abhören?«
»Der Teufel ist ein Eichhörnchen.«
Annemarie spielte nur die Genervte. Sie hatte sich sehr über diesen Wochenendtrip nach New York gefreut. Sie liebte die riesige Stadt. Es wurde Zeit, dass sie wieder einmal diesem Zürich entkam. Seit der St.-Moritz-Sache war es noch enger und damit eigentlich unerträglich für sie in der Schweiz geworden. Sie, die in ihrer Jugend allein durch Südamerika getrampt war, Chile, Bolivien, Argentinien … Damals noch nicht mit Kurzhaarschnitt und Perlenkette und im Flanellkostüm.
»Ich weiß, ich frage jetzt zum dritten Mal, aber was hast du gestern gemeint mit der Ratten-Sache?«, verlangte sie zu wissen.
Sonndobler hatte seit dem Start in Zürich vor vier Stunden reichlich Gin Tonic getankt. Er blickte aus dem Fenster der Gulfstream, sah auf die Krümmung der Erde und wurde redselig.
»Ich habe dir doch von der Begegnung mit Kayser in Davos erzählt. Dass er mich zu seinem Nachfolger bestellen wollte. Dass er von einer Bedrohung unserer Unternehmen und Institutionen durch die Ungewaschenen erzählt hat. Dass sie es wären, die hinter den Anschlägen auf unsere Kunden steckten.«
Annemarie Käppli nickte nur.
»Er hat mir dann später mehr erzählt. Dass die Ungewaschenen vorhätten, unsere Wirtschaftsordnung zu verändern. Um für Gerechtigkeit auf der Welt zu sorgen, vor allem in den armen Ländern. Doch er selbst glaubte natürlich nicht daran, dass man mit den sanften Mitteln der Erziehung die weltweiten Probleme in den Griff bekommen kann, vor allem nicht das der Überbevölkerung. Das wollte er auf seine Weise bekämpfen, indem er weite Teile Afrikas und Asiens entvölkerte.«
»Äh … bitte?« Annemarie Käppli war sicher, dass sie sich verhört hatte.
»Ja, genau. Entweder die oder wir. So, wie er gesprochen hat, hat es da schon entsprechende Versuche gegeben, die von ihm oder Leuten, die hinter ihm stehen, unternommen wurden. Er erwähnte zum Beispiel Aids.«
»Eine Epidemie?«
»Ja, nur dass dieser Virus den Job wohl nicht so erledigt hat, wie es gedacht gewesen war. Darum hatte er einen neuen Plan entwickelt. Er wollte die Menschen in Afrika und später die in Asien mit einem Einzeller infizieren, der Lebewesen zugleich angstfrei und aggressiv macht. Und zwar innerhalb kürzester Zeit. Und der sich über Ratten, Mäuse und Katzen rasend schnell ausbreitet.«
Annemarie Käppli riss die Augen weit auf. »Das
Weitere Kostenlose Bücher