Bluteis: Thriller (German Edition)
auch verraten, wie man darauf gekommen war, dass die Entführer mit ihren Geiseln ausgerechnet das Refuge du Goûter angesteuert hätten. Nachdem man ihre Spur anhand ihrer »Hinterlassenschaften« eindeutig hatte nachvollziehen können, hatte man per Hubschrauber das gesamte Mont-Blanc-Massiv abgeflogen und abgesucht. Eine so große Gruppe war leicht aus der Luft zu sehen. Aber nirgends war eine weitere Spur von den Gekidnappten zu finden gewesen.
Der Winterwart, der den Neubau der Goûter-Hütte bewachte, hatte sich seit dem Nachmittag des vergangenen Tages nicht mehr gemeldet und war weder per Telefon noch Funk zu erreichen. Zudem lieferten die Webcams, mit denen die Eingänge und die Gemeinschaftsräume des Refuge du Goûter überwacht wurden, nur noch schwarze Bilder. Damit schien klar zu sein, wohin sich die Gesellschaft zurückgezogen hatte.
Was die Entführer mit ihren Geiseln dort oben wollten, darüber konnte man nur spekulieren. Doch die exponierte Lage und die Besonderheit des Baus sprachen dafür, dass eine öffentlichkeitswirksame Aktion der Terroristen bevorstand. Würden sie ihre Forderungen nach drei Monaten von dort oben verkünden? Allein die Tatsache, dass sie eine Entführung vorgenommen hatten, die der Schweizer Geheimdienst ein Vierteljahr verschwiegen hatte, würde das Image der Eidgenossenschaft weiter nach unten ziehen. Es würde weltweite Empörung und in der Schweiz Verwerfungen in der politischen Landschaft geben.
Denninger und seine Kollegen hätten also von ihrem Führungsoffizier Beat Steiner die Handlungsmaxime erhalten, die Entführung ohne jegliches Aufsehen zu beenden. Was das im Zweifelsfall für die Entführten hieß, konnte sich Thien ausmalen. Es bedeutete, dass die Entführer unter allen Umständen auszuschalten waren. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne »Kollateralschäden«, wie man in Kreisen von Militärs und Kommandotruppen den Tod Unschuldiger nannte. Das Leben von Sandra stand also wahrscheinlich noch mehr als sonst auf des Messers Schneide.
Die Einsatztruppe duckte sich zweihundert Höhenmeter unter dem Grat der Aiguille du Goûter hinter eine Schneewächte. Denninger erläuterte seinen Kämpfern noch einmal den Einsatz. Jeder von ihnen war mit Plastiksprengstoff, einer Maschinenpistole MP5 und diversen Pistolen bis an die Zähne bewaffnet. Sie würden in der Direttissima unter dem Rundbau des Refuge du Goûter aufsteigen und konnten auf diese Weise sicher sein, dass sie sich während des Aufstiegs im toten Winkel für Blicke von oben befanden. Wenn sie am Boden des glänzenden Bauwerks angekommen sein würden, würde man einen Mann als Vorhut über das Stahlgeländer nach oben schicken, der eine Haftladung an der Tür des Refuge anbringen würde. Auf sein Sichtzeichen – auf jegliche Art der elektronischen Kommunikation verzichtete man, um sich nicht zu verraten – würden sich die anderen über den Grat dem runden Bau nähern.
Sie würden sich wie eine normale Skitourengruppe bewegen, nicht zu langsam und nicht zu schnell. Falls sie aus der Hütte beobachtet würden, wovon auszugehen war, würden sie als Skitouristen gelten, die einfach nur die Aiguille du Goûter an diesem Tag bestiegen, um die steilen, frisch verschneiten Tiefschneehänge abzufahren. Sie würden so tun, als würden sie auf der stählernen Plattform vor dem Eingang eine Pause einlegen, ihre Felle von den Ski ziehen und eine Thermoskanne kreisen lassen. In einem unerwarteten Moment würden sie dann die Tür sprengen und zu viert in die monumentale Bergunterkunft eindringen. Beim dann zu erwartenden »Shoot-out« müssten sie einfach die Schnelleren und Besseren sein. Und die Geiseln nach Möglichkeit schonen. Thien sollte ihnen mit wenigen Sekunden Abstand folgen und mit der Canon ein Video drehen. »Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite«, schloss Denninger. »Sie rechnen nicht mit einem Angriff bei Tag. Und nicht mit einem Angriff von nur drei Männern.«
Nur wirklich erfolgreichen Anführern gelang es, offensichtliche Schwachstellen eines Planes als dessen große Vorteile zu verkaufen, dachte Thien. Die Gefahr, dass sie zu früh gesehen und ganz einfach abgeknallt wurden, war groß. Jedenfalls war aus Markus Denninger ein erfolgreicher Anführer geworden, denn die beiden anderen nickten nur und machten nicht den Eindruck, als würden sie das Gelingen auch nur im Geringsten in Zweifel ziehen.
Kurz schwappte eine Welle der Eifersucht durch Thiens Brust. Immerhin war Sandra mit
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