Bluteis: Thriller (German Edition)
die Gipfel des Mont-Blanc-Massivs gestatten. Wir freuen uns, dass heute die erste Veranstaltung der Osterbacher auf dem Gipfel eines Berges stattfindet. Wir haben dafür gesorgt, dass Sie dort oben anständig verpflegt werden. Obwohl es nicht ganz leicht war, von der französischen Verwaltung die Landung mit Hubschraubern genehmigt zu bekommen. Wir werden Sie gegen neun Uhr dreißig direkt auf der Plattform des Gebäudes absetzen und Sie gegen zwölf Uhr dreißig dort wieder abholen. Selbstverständlich haben wir das Gelände und das Haus gesichert. Sie müssen sich also nicht die geringste Sorge machen. Sie können nun während des Fluges aus einer Auswahl internationaler Zeitschriften wählen oder auf den Tablet-PCs, die in den Seitenfächern Ihrer Sitze stecken, ins Internet gehen. Dieser Hubschrauber ist mit W-Lan ausgestattet. Vielleicht darf ich Ihnen auch etwas Heißes oder Kaltes zu trinken anbieten?«
Annemarie Käppli spielte ihre Rolle wie immer perfekt, dachte Sonndobler. Sie war eigentlich die beste Mitarbeiterin der ganzen Bank und hätte sicherlich mindestens die Hälfte der in diesem Helikopter sitzenden Manager ersetzen können. Oder zwei Drittel. Und diese intelligente Person spielte nun die Reiseführerin und Stewardess für den verwöhnten Männerverein. Wahrscheinlich würde sie sogar, hätte er sie darum gebeten, mit irgendeinem oder mehreren dieser Kerle … Er verbat sich diesen Gedanken. Ja, sie war ihm, Albert Sonndobler, ergeben. Und er ihr ausgeliefert. Ihm fiel jedoch kein Grund ein, warum er an diesem symbiotischen Verhältnis irgendetwas ändern sollte. Die heimliche Doppelspitze Sonndobler/Käppli hatte die Bank durch die rauheste See der letzten einhundert Jahre gelotst und hatte ihn an die Spitze der Osterbacher gebracht. Solange Annemarie keine weiteren Ansprüche stellte, als regelmäßig von ihm ordentlich rangenommen zu werden und ihre geheime Firmenkreditkarte auszuführen, war alles geregelt. Er sackte den Erfolg ein und konnte dabei noch den treuen Familienvater spielen, und sie hatte ihren Spaß. Und zusätzlich noch jede Menge Einfluss auf ihn – und damit auch auf den Gang vieler entscheidender Dinge auf dieser Welt.
Sonndobler nickte über diesen Gedanken ein und verpasste den atemberaubenden Blick auf die schneebedeckten Alpengipfel, die der Pilot in nicht allzu großer Höhe überflog. Hätte Sonndobler gewusst, dass er die Schönheit der Natur seiner Heimat nie mehr wieder würde betrachten dürfen, hätte er die letzte Stunde sicher in einem anderen Zustand verbracht.
Sonntag, 7. April, 9 Uhr 05
Aiguille du Goûter
Thien Hung Baumgartner, Markus Denninger und seine zwei Geheimdienstkollegen, die sich Thien wie bei ihrem Einsatz am Roseggletscher wiederum nicht vorgestellt hatten, erreichten den letzten steilen Hang der Aiguille du Goûter. Der Gipfel hatte einen mehrere hundert Meter langen Grat, auf dem die unglaubliche Goûter-Hütte stand. Thien konnte nicht an sich halten und musste mehrere Fotos von ihr schießen. Es sah so aus, als wäre ein Ufo auf dem Berg gelandet.
Denninger hatte ihn vor ihrem Aufbruch um drei Uhr nachts inständig darum gebeten, seine Kamera nicht zu vergessen. Man brauchte Beweise, aus seinen Fotos sollte hervorgehen, wer die Entführer und wer die Befreier waren. Der Einsatz einer internationalen Söldnertruppe sei ein heikles Unterfangen, und wenn es Probleme geben sollte, musste Thien mit seiner Kamera oder wenigstens mit deren Speicherkarte so schnell wie möglich zurück ins Tal fahren, um die Aufnahmen in Sicherheit zu bringen. Als ehemaliger Steilwandprofi und professioneller Fotograf sei er dazu geradezu prädestiniert. Er könne entweder nach Courmayeur oder nach Chamonix abfahren, in jedem der Talorte warte einer von Markus Denningers Truppe, um die Datenkarte in Empfang zu nehmen. Thien solle nach einem »suboptimalen Ausgang der Aktion«, wie Denninger sich ausdrückte, erst einige Wochen in Italien als Tourist verbleiben, dort seien die Sicherheitsvorkehrungen lax, und er würde an der Adria in der bald beginnenden Badesaison nicht auffallen. Anschließend sollte er dann in seine Heimat nach Garmisch-Partenkirchen zurückkehren. Und alles vergessen.
Thien fragte sich zwar kurz, warum er bei der Aktion in der Roseggletscherhöhle nicht die gleiche Anweisung bekommen hatte, aber er war angesichts von Sandras bevorstehender Befreiung zu aufgeregt, um dieser Frage zu große Bedeutung zuzumessen. Markus Denninger hatte ihm
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