Bluteis: Thriller (German Edition)
Wochentag, je nach Tageszeit fühlte man sich hier entweder wie mit dem Flugzeug auf einer einsamen schneebedeckten Insel abgestürzt oder wie von der U-Bahn zur Mittagszeit an der Wall Street ausgespuckt. Thien bemerkte durchaus, dass sich Sandra während der Abendtermine viel wohler fühlte als er. Er war froh, wenn er diese gestelzten Gesellschaften abgeknipst hatte und um elf Uhr nachts zurück zum Hotel fahren konnte. Dann musste er Sandra aus den Festsälen der opulenten Grandhotels regelrecht hinauszerren. Das mochte ja was werden, wenn die großen Events mit dem richtig prominenten Publikum erst losgingen, dachte er sich jedes Mal, wenn er Foto-Equipment und Sandra in ihrem kleinen Suzuki-Jeep verstaut hatte.
In diesem handlichen Allradler bog er auf der Hauptstraße nach rechts und fuhr an Silser, Silvaplana- und Campfersee vorbei in Richtung des berühmten Hauptortes des Engadins. In der Nacht hatte es geschneit, aber der Winterdienst hatte die Landstraße bereits in den frühen Morgenstunden geräumt. Eine gute halbe Stunde Fahrzeit benötigte er bis St. Moritz. Der dortige See war der Ausgangspunkt der Reitveranstaltung, bei der es darum ging, einen imaginären Fuchs, der durch ein Fell auf der Schulter des ersten Reiters symbolisiert wurde, zu jagen. Als Thien Baumgartner das Auto im Pressebereich des Startgeländes parkte, kam ihm bereits der Veranstalter entgegen. Paul Wyss hatte es zeit seines Lebens verstanden, sich um die Vertreter der Presse bevorzugt zu kümmern. Dies hatte in nicht unbeträchtlichem Maße zu seinem Erfolg als Promi-Coiffeur von St. Moritz beigetragen. Auch sein liebstes Hobby, das Reiten, wusste er zugunsten seines Geschäftes einzusetzen. Von der Begleitung seiner Veranstaltung durch den deutschen Fotografen erhoffte er sich eine große Story in dem amerikanischen Bergmagazin. Thien würde keine Sekunde des Ausritts verpassen, dafür hatte er Sorge getragen.
»Gruezi, Herr Baumgartner«, begrüßte er den Gast. »Erst einmal eine kleine Aufwärmung gefällig?«
Mit diesen Worten winkte er einem der Stewards. Die gingen mit Tabletts zwischen den Reitern hin und her, die wiederum gerade ihre Pferde fertig machten. Der junge Mann kam eilfertig heran, und Thien begriff, dass bei diesem Sport keine Dopingkontrollen vorgesehen waren, jedenfalls nicht bei den menschlichen Teilnehmern.
»Nein danke. Keinen Schnaps. Ich bin bei der Arbeit, und außerdem ist es halb neun, Herr Wyss.«
»Und ich dachte, die Bayern sind noch schlimmer als wir«, scherzte der joviale Mittfünfziger.
»Das mag sein, aber ich bin in Vietnam geboren und erst mit drei Jahren nach Bayern gekommen. Mir fehlt das Enzym. Nach einem Schnaps können Sie mich ins Heu legen. Da kann ich die Kamera nicht mehr halten. Geschweige denn Ihrer Jagd mit dem Jeep folgen.«
»Das tut auch keine not, Herr Baumgartner. Wenn ich Ihnen vorstellen darf – René ist heute Ihr Fahrer.«
René balancierte das Schnapstablett auf der linken Hand und begrüßte Thien mit der rechten. Bevor Thien fragen konnte, ob der Junge denn schon einen Führerschein habe, schritt der in Richtung des Catering-Zeltes und verschwand darin. Wenige Augenblicke später trat er ohne Tablett, aber mit einen Moto-Cross-Helm unter dem Arm wieder nach draußen. Er verschwand abermals, doch diesmal lief er hinter das Zelt. Von dort hörte Thien plötzlich einen Motor aufheulen. Einige der blütigeren Pferde zuckten. Dann kam René mit Karacho auf einem Quad hinter dem Zelt hervorgeschossen. Er begnügte sich damit, auf den beiden Hinterrädern des Vierradlers zu fahren. Knapp vor Thien Baumgartner und Paul Wyss stoppte die Maschine. René hielt sie einige Sekunden auf den Hinterrädern im Stand, bevor er sie ganz sachte nach vorn auf alle viere kippen ließ.
Wyss lächelte zufrieden, als er Thiens überraschtes Gesicht sah. »René Zellner, Schweizer Meister im Geschicklichkeitsfahren auf zwei und vier Rädern. Ihr persönlicher Fahrer heute, morgen und am Sonntag, Herr Baumgartner. Er wird Sie so nah an die Hufe unserer Rösser bringen, wie das noch keinem Fotografen gelungen ist.«
Thien holte Luft, um etwas zu sagen.
»Keine Widerrede, Herr Baumgartner, das ist das letzte Rennen. Und ich will die allerbesten Bilder für den American Mountaineer. Das bin ich der Tradition unserer Veranstaltung und den Teilnehmern schuldig. Nebenbei – ich plane bereits eine Nachfolgeveranstaltung. Und da könnte ich starke Fotos für die Sponsorenwerbung gut
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