Bluteis: Thriller (German Edition)
Grundform. Vier, fünf Meter Höhe in der Mitte. Irgendwo musste es rausgehen. Irgendwie war sie hier ja auch hereingekommen.
Da war links ein Spalt knapp über dem Boden, vielleicht einen Dreiviertelmeter hoch. Sollte sie dort hineinkriechen? Das letzte Mal, als sie in eine Höhle gekrabbelt war, hatte es danach richtig Ärger gegeben. Sie hatte Dinge gesehen, die ihr nie ein Mensch geglaubt hätte. Darum hatte sie sie fotografiert. Die Fotos hatte jetzt allerdings der amerikanische Geheimdienst. Und niemand sonst würde sie jemals zu sehen bekommen. Doch eine Kamera hatte sie diesmal gar nicht dabei. Irgendwer musste sie ihr genommen haben.
Sie ging auf die Knie und sah in den Spalt hinein. Er wurde nach hinten niedriger, aber von dort hinten, so nach drei, vier Metern, schien ein helleres Licht als in ihrer Höhle. Würde dort bereits die Freiheit auf sie warten? Das würde sie nur herausfinden, indem sie in den Spalt kroch.
Sie schob sich auf allen vieren hinein in den Eisspalt. Der Kanal wurde immer enger. Zum Schluss musste sie auf dem Bauch kriechen. Dann war sie durch. Sie konnte sich wieder aufstellen.
Sie war nicht im Freien. Sie stand in einer noch größeren Eishöhle. Auch hier schien im tiefen Hellblau Licht durch das Gletschereis. Draußen musste die Mittagssonne von einem wolkenlosen Himmel strahlen.
Vor ihr lagen auf fellbelegten Eispodesten zwei Männer. Der rechts war der Araber mit der Wette, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte. Der andere sah aus wie ein dicker russischer Zuhälter. Hatte sie ihn in diesem Zelt gesehen? Dort hatte es mehrere Russen gegeben, die so ähnlich ausgesehen hatten.
Als würde in der höchst seltsamen Situation, in der sie sich befand, Höflichkeit irgendeine Rolle spielen, räusperte sich Sandra laut, um die beiden Männer zu wecken. Vergebens. Sie schliefen tief und fest. Sie versuchte es mit Rütteln. Nichts geschah. Sie schrie sie an: »Hallo, aufwachen!« Nichts. Sie schrie lauter. Ihre Stimme wurde vom harten Eis zurückgeworfen.
Endlich tat sich etwas. Doch nicht das, was sie erwartet hätte. Keiner der Männer rührte sich. Stattdessen wurde ihr ein metallener Gegenstand von hinten an den Kopf gepresst.
Die Mündung einer Schusswaffe. Sandra erstarrte.
Eine Stimme sagte: »Umdrehen.«
Sie tat es, aber sehr langsam, sehr vorsichtig. Dann sah sie in das Gesicht einer Frau.
Einer schwarzen Frau.
Montag, 18. Februar, 11 Uhr
Bern, Bundesamt für Polizei (fedpol)
»Sie haben uns wichtiges Beweismaterial vorenthalten, Herr Baumgartner.«
Thien saß seit gestern in dem Vernehmungsraum mit den grau getünchten Wänden. Allerdings mit kleineren Unterbrechungen. So hatte man ihn zum Schlafen in ein nahe gelegenes Hotel geschickt. In Begleitung eines Zivilbeamten, der die ganze Nacht vor seinem Zimmer wachte.
»Ich weiß nicht, was Sie sich einbilden, aber ich bin Fotograf. Event-Fotograf. Ich habe von jedem dieser gottverdammten Anlässe im Engadin Hunderte von Fotos gemacht. Mein Job ist, die Menschen auf diesen Events zu fotografieren und die Bilder nach New York an den American Mountaineer zu senden. Ich glaube, ich habe das schon ein paar Mal gesagt.«
»Wir haben das überprüft. Beim Verlag in New York kennt Sie keiner. Es gibt auch keine Bildredakteurin mit dem Namen Sue.«
»Was – was soll ich da sagen?«, stammelte Thien. »Es gibt E-Mails von ihr auf meinem Rechner. Den haben Sie ja wohl mittlerweile in seine Einzelteile zerlegt.«
»Das können Sie glauben. Solche E-Mails kann man faken. Einfach nachmachen. Die in New York kennen die Mailadresse nicht, an die Sie geschrieben haben.«
»Dann hat mich jemand reingelegt!«, rief Thien. »Warum sollte ich mit mir selbst gefakte E-Mails austauschen?«
»Genau das werde ich herausbekommen, Herr Baumgartner.«
»Kann ich einen Anwalt haben?«
»Können Sie sich einen Schweizer Anwalt leisten?«
»Gibt es keinen Pflichtverteidiger?«
»In einem Terrorismusfall gibt es das, was ich als leitender Ermittler bestimme, Herr Baumgartner.« Beat Steiner warf sein Klemmbrett auf den Tisch vor Thien. Ein reichlich archaisches Schreibwerkzeug für einen eidgenössischen Bundesagenten, der sich mit elektronischer Aufklärung befasste, fand Thien. Aber er sagte lieber nichts.
»Terrorismusfall? So. Und ich habe Beweismittel Ihnen vorenthalten. Fotos auf meiner Kamera, die ich erst einmal auswerten musste. Bei denen ich gar nicht wusste und auch bis heute nicht weiß, was ich alles fotografiert
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