Bluteis: Thriller (German Edition)
Einsatz. Der See ist gut vierzig Meter tief. Er hat keine unterirdischen Abläufe. Sie sind nicht im Wasser. Wir sind uns zu neunundneunzig Prozent sicher.« Er nahm das Blatt Papier, das er eine Minute zuvor auf Sonndoblers Schreibtisch gelegt hatte, wieder an sich, faltete es zusammen und steckte es in die Innentasche seiner Lederjacke.
»Was soll das heißen, zu neunundneunzig Prozent?«, zischte Sonndobler. »Kommen Sie wieder, wenn Sie zu hundert Prozent sicher sind.«
»Zu neunundneunzig Prozent heißt, dass wir vielleicht – und auch nur sehr, sehr vielleicht – eine Person finden können. Oder dass vielleicht eine Person durch den Ablauf des Sees den Inn hinabgespült wurde und in irgendeiner Stromschnelle hängt. Aber es werden nicht noch acht Personen gefunden oder im Inn vom Geschiebe des Flussbettes zermahlt werden. Das ist vollkommen ausgeschlossen.«
»Aber im Fernsehen heißt es andauernd, Sie suchen noch.«
»Wir suchen auch noch. Um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass wir was tun, dass wir uns um die Menschen kümmern. Aber wir sind sicher, dass da niemand mehr ist.«
»Dann sind sie eben irgendwo untergebracht. Im Hospital. In einem Hotel.«
»Wir haben mittlerweile das gesamte Engadin durchkämmt. Jedes Hotelzimmer. Jede Wohnung. Sie sind nicht da. Und warum sollten sich acht Menschen dieses Ranges nicht bei ihrer Familie oder den Behörden melden?«
Sonndobler atmete tief durch. Acht seiner wichtigsten Kunden. Weg. Verschwunden. Aus einem VIP-Zelt der Credit Suisse.
»Die Helis. Es sind Leute aus unserem Zelt von den Helis der Flugwacht nach oben gezogen worden. Ich war dabei. Ich hab es gesehen. Und man sieht es im Fernsehen!«
»Die Helis haben Menschen aufgenommen und sind in das Hospital geflogen. Insgesamt fünf Maschinen von Bergrettung, Armee, Polizei und Rettungsflugwacht. Sie haben insgesamt über einhundert Menschen gerettet. Die Vermissten sind nicht darunter.«
Sonndobler schlich zurück hinter seinen Schreibtisch. Der Geheimdienstler stand immer noch genauso davor, wie ihn Sonndobler stehen gelassen hatte. Er hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. »Was soll ich tun? Wenn die Schweizer Armee, die Polizei und der Geheimdienst sie nicht finden? In unseren Tresoren sitzen sie nicht.«
Beat Steiner schwieg.
»Glotzen Sie mich nicht so an, Mann!«, brauste Sonndobler auf. »Noch einmal: Was erwarten Sie von mir? Was soll ich tun?«
»Wir brauchen alle Unterlagen hinsichtlich der Beziehungen zwischen der Caisse Suisse und den acht verschwundenen Personen. Geschäftliches. Und auch Privates. Alles.«
»Unmöglich.«
»Es geht um die nationale Sicherheit der Eidgenossenschaft, Herr Sonndobler.«
»Es geht um die nationale Sicherheit von mindestens zehn Staaten, Herr Steiner. Es passt zu Ihnen, dass Sie keinen Schimmer haben, wer diese acht Menschen sind, die Sie da suchen. Sie haben ja auch zugelassen, dass der St. Moritzersee in die Luft gesprengt wird. Unsere kompletten Sicherheitsbehörden – vollkommen ahnungslos. Und jetzt kommen Sie daher und erzählen mir was von wegen nationaler Sicherheit. Schämen Sie sich nicht? Ein Terrortrupp vermint einen See, auf dem jedes Wochenende ein Event stattfindet, und der Schweizer Geheimdienst bekommt nichts davon mit? Man muss ja froh sein, dass sie uns nicht die Berge und Gletscher am helllichten Tag aus unserem Land tragen, oder?« Wenn sich Sonndobler richtig aufregte, fiel er zurück in das heimische Idiom und hängte das in der Schweiz allgegenwärtige Fragewort an seine Sätze an.
Beat Steiner sagte nichts. Er hatte einen Auftrag von höchster Stelle erhalten. Er würde dieses Büro nicht ohne die Unterlagen verlassen.
Sonndobler wusste das genauso gut wie er. Nach einer mit Schweigen angefüllten halben Ewigkeit sagte er: »Nun gut. Was bleibt mir übrig.« Er griff zum Telefon und drückte die Zwei. Wenig später wurde die Bürotür geöffnet, und Annemarie Käppli erschien.
»Annemarie, bringen Sie den Mann hier zum zentralen Datenserver. Er hat umfassende Datenfreigabe.«
Steiner sagte nur ein »Dankeschön« und drehte sich zu Käppli um.
Schnell nahm Sonndobler sein iPad, startete die Notizenfunktion und tippte mit dem Zeigefinger etwas auf das Display. »Noch etwas!«, rief er, als Annemarie Käppli die Bürotür gerade hinter sich schließen wollte.
Sie kehrte zurück ins Büro ihres Chefs. Der sagte besonders laut und deutlich, so dass es Steiner draußen hören musste: »Nehmen Sie doch dieses
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