Bluternte: Thriller
Schlimmste, was er mit uns gemacht hat?«
»Was?«, fragte Evi und dachte bei sich, dass sie das wirklich, wirklich nicht wissen wollte. Wann hatte sie Alice zum letzten Mal rufen hören? Sollte die Polizei nicht inzwischen hier sein?
»Wir haben oben auf dem Moor einen alten Brunnen. Früher war da mal eine Wassermühle und ein paar Hütten für die Arbeiter. Die Gebäude sind alle weg, aber aus irgendeinem Grund ist der Brunnen nie zugeschüttet worden. Wir haben eine Steinhütte drum herum gebaut, damit nichts passiert. Damit Schafen und herumstreunenden Kindern nichts passiert. Aber nicht damit uns nichts passiert, Christiana und mir, denn er hat einen Gurt und ein Seil da angebracht, und wenn wir schwierig waren, wenn wir es gewagt hatten, nein zu sagen, oder nicht so fest gelutscht haben, wie er es wollte, dann hat er uns in den Brunnen gesteckt. Er hat uns den Gurt umgeschnallt und uns runtergelassen. Hat uns stundenlang da hängen lassen, in der Dunkelheit. Mit anderen Kindern hat er das auch gemacht. Bis er mal eins zu lange hat hängen lassen, und damit war dieses kleine Spiel dann vorbei.«
Jenny war zu nahe, Evi blieb nichts anderes übrig, als einen Schritt rückwärts zu machen, die Treppe hinauf. Sofort folgte die andere Frau ihr.
»Jenny, Sie brauchen Hilfe«, sagte sie. »Das ist Ihnen doch klar, oder? Nichts von alldem war Ihre Schuld, aber Sie müssen das aufarbeiten. Er hat Ihnen bleibenden Schaden zugefügt. Christiana auch. Ich kann Ihnen jemanden suchen, der mit Ihnen arbeitet. Es wird natürlich lange dauern, aber –«
Jenny beugte sich zu ihr vor. »Glauben Sie wirklich, dass solche Schäden repariert werden können, Evi? Durch Reden?«
Sie hatte nicht unrecht. Evi wünschte sich nur, sie würde nicht ständig so dicht vor ihr stehen. »Nicht völlig, nein«, gab sie zu. »Nichts kann Ihnen diese Erinnerungen nehmen. Aber der richtige Therapeut kann Ihnen helfen, damit klarzukommen. Aber jetzt ist das Wichtigste, dass wir Joe finden. Harry und Gareth sind zu dem Brunnen hinaufgefahren. Ist Joe dort versteckt?«
Irgendetwas huschte über Jennys Züge. »Sie sind zu der Hütte gefahren?«, fragte sie. »Da oben war seit fünfzehn Jahren niemand mehr. Wir haben sie zugesperrt, nachdem …«
»Nachdem was? Was ist da oben?«
»Hören Sie zu. Hören Sie mir zu.«
Gareth Fletcher hörte nicht zu, er schrie und schlug mit dem Kopf gegen die Wand der Hütte, drosch mit beiden Fäusten darauf ein. Schon war die Haut an seiner Stirn aufgeschürft. Blut lief ihm an der Nase entlang. Harry packte einen seiner Arme und versuchte, ihn herumzudrehen. Gareths freie Faust zuckte auf ihn zu, und Harry trat zurück, kam dem Schacht gefährlich nahe.
»Das ist nicht Joe!«, schrie er, so laut er konnte. »Es ist nicht Joe!«
Drang er damit durch? Gareth hatte aufgehört zu brüllen. Er lehnte an der Wand, das Gesicht in den Händen verborgen.
»Gareth, Sie müssen mir zuhören«, drängte Harry. »Dieses Kind ist schon seit Jahren tot. Sehen Sie es sich an. Nein, Sie müssen hinsehen. Das kann nicht Joe sein, ich verspreche es Ihnen, sehen Sie doch.«
Gareth hob den Kopf. Seine Augen leuchteten unnatürlich, als er einen Schritt auf Harry zu machte. Harry wappnete sich. Er war der größere von ihnen beiden, aber der andere Mann war wahrscheinlich stärker. Er wollte es so dicht am Rand eines Brunnenschachts wirklich nicht auf einen Zweikampf ankommen lassen. Also packte er Gareth an den Schultern und drückte ihn nieder, bis beide von Neuem auf dem alten Steinboden knieten.
»Sehen Sie«, sagte er und zog die Tasche auseinander. Seine Hände zitterten, als er die Taschenlampe aufhob und hineinleuchtete. »Dieses Kind ist schon seit Jahren tot«, wiederholte er. »Schauen Sie, Sie müssen hinsehen. Es sind fast nur noch Knochen übrig. Das hier kann nicht Joe sein, das ist einfach nicht möglich.«
Gareth sah aus, als hätte er Mühe, Luft zu bekommen. Jeder seiner Atemzüge war ein gewaltiges, keuchendes Aufschluchzen, doch er sah die Tasche an, sah das Kind in der Tasche an.
»Nicht Joe«, sagte Harry noch einmal und fragte sich, wie oft er es wohl noch würde wiederholen müssen, bevor der andere ihm glaubte. Und ob es mittlerweile wirklich Gareth war, den er zu überzeugen versuchte.
Gareth fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Großer Gott, Harry«, stieß er hervor. »Womit haben wir es hier zu tun?«
»Joe!«
Tom blinzelte sich den Schnee aus den Augen. Er sah seinen Bruder vor
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