Bluternte: Thriller
sich, zusammengerollt wie eine Schnecke im nordöstlichen Glockenturm. Verschnürt wie ein Weihnachtstruthahn, mit Stricken um Knöchel und Handgelenke. Joe, bleich wie ein Pilz und kalt wie ein Eiszapfen, aber noch am Leben. Joe, der zitterte wie Götterspeise und mit Augen zu ihm emporstarrte, die jegliche Farbe eingebüßt hatten, doch noch immer die Augen waren, an die er sich erinnerte. Joe … hier … keine hundert Meter vom Haus entfernt.
Ebba beugte sich in den Glockenturm und zog eine dreckige Patchwork-Steppdecke über die Schultern seines Bruders, versuchte, ihn warm zu halten.
»Joe, es ist alles okay«, flüsterte Tom. »Jetzt ist alles gut. Ich hole dich hier runter.«
Joe antwortete nicht, sondern schaute nur mit seinen durchsichtigen Augen zu Tom hinauf. Sein Kopf ruckte krampfhaft, seine Glieder zuckten. Es ging ihm gar nicht gut, das konnte Tom sehen. Irgendwie hatte Joe eine Nacht und einen Tag auf dem Kirchendach überlebt. Viel länger würde er nicht durchhalten. Sie mussten ihn von diesem Turm herunterschaffen. Tom beugte sich in den Glockenturm und versuchte, die Hände unter die Schultern seines Bruders zu zwängen. Er konnte ihn erreichen, konnte Haut berühren, die sich zu kalt anfühlte, um lebendiges Fleisch zu umhüllen, doch als er zog, blieb Joe, wo er war.
Tom drehte sich um und sah Ebba an. Sie kauerte noch immer auf der anderen Seite des Verschlags, umklammerte den Rand der Spiegelkacheln mit ihren übergroßen Händen und starrte ihn an.
»Wie kriegen wir ihn da raus?«, fragte Tom.
»Ein Kind ist umgekommen«, sagte Jenny. »Ein kleines Zigeunermädchen, das Tobias aufgelesen hat, als er sich in der Nähe von Halifax ein Pferd angesehen hat. Sie ist allein herumgestreunt. Er hat sie einfach da oben hängen lassen, in dem Brunnenschacht.«
Wo zum Teufel blieb die Polizei?
»Mit Ihnen kann man gut reden, Evi. Sie hören zu. Sie brechen nicht den Stab über andere. Ich hole jetzt Millie.« Jenny drängte sich sanft, aber bestimmt an Evi vorbei, manövrierte sich auf eine höhere Stufe. Evi drehte sich um und umklammerte das Geländer, um nicht zu fallen.
»Niemand würde den Stab über Sie brechen, Jenny«, versicherte sie. »Sie waren doch noch ein Kind. Ist Ihnen denn nie der Gedanke gekommen, dass Sie vielleicht Ihrem Vater erzählen könnten, was da vorging?«
Irgendetwas glitzerte in Jennys Augen. »Glauben Sie etwa, er wusste nichts davon?«
»Doch ganz sicher nicht, oder?«
»Was glauben Sie denn, warum er so dagegen war, dass die Fletchers dieses Grundstück kaufen? Er hat gewusst, dass sie eine Tochter hatten. Er weiß, dass kleine Mädchen in diesem Dorf nicht sicher sind.«
Evi bemühte sich, dies alles zu begreifen. »Aber seine eigenen Töchter?«
»Er hat mich mit dreizehn aufs Internat geschickt, kurz nachdem Heather zur Welt gekommen ist. Danach konnte er nicht mehr so tun, als würde er nichts merken. Für Christiana war es natürlich zu spät, sie war zu alt für die Schule.«
Evi streckte eine Hand aus und berührte den Arm der anderen. »Jenny, das müssen wir alles der Polizei erzählen«, drängte sie. »Die müssen dem ein Ende machen, bevor noch ein Kind ums Leben kommt. Ich sollte noch mal anrufen, damit sie schneller hier sind.« Sie stieg eine Stufe hinunter.
»Warten Sie, bitte.« Jetzt war Evis Arm in einem festen Griff gefangen. »Ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt.«
Allmächtiger, was konnte es da noch mehr zu sagen geben? Evi warf einen raschen Blick auf das Flurfenster und hoffte, flackerndes Blaulicht zu erblicken.
»Was möchten Sie mir denn sagen?«, fragte sie.
Jenny senkte den Kopf. »Das ist so schwer«, sagte sie. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal jemandem erzählen würde.«
»Wie kriegen wir ihn da raus?«, wiederholte Tom. Ebbas Miene veränderte sich nicht. Nichts zeigte, dass sie ihn verstanden hatte. Tom wandte sich wieder seinem Bruder zu und versuchte, ihn wenigstens teilweise hochzuziehen. Joe rührte sich nicht vom Fleck, und Tom wurde klar, warum. Die Stricke, die seinen Bruder fesselten, waren auch an dem Glockenturm festgeknotet.
»Joe, ich muss Hilfe holen gehen«, sagte er. »Unten in der Kirche ist ein Polizist. In fünf Minuten bin ich wieder da, Joe, ich versprech’s.«
Joes Augen hatten sich geschlossen. Seinen Bruder in dem Turm zurückzulassen war das Schwerste, was Tom je getan hatte, aber irgendwie rang er sich dazu durch, kehrtzumachen und am Dachrand entlang zurückzukriechen. Er
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