Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bluternte: Thriller

Bluternte: Thriller

Titel: Bluternte: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
Vom Netzwerk:
sind doch Psychiaterin, Evi«, antwortete sie. »Raten Sie mal.«
    Ebba schloss die Tür am hinteren Ende der Empore auf und begann, die kurze Wendeltreppe hinaufzusteigen. Der Wind packte ihr Haar, wirbelte es hoch und ließ es um ihren Kopf flattern wie eine Fahne. Tom blieb stehen. Es wäre Wahnsinn, da hinaufzugehen.
    Tommy, bitte komm.
    Ehe er Zeit hatte, zu überlegen, was er tun sollte, hatte Ebba seine Hand gepackt und zog ihn aufs Dach hinaus. Sie ließ sich auf alle viere nieder, und er folgte ihrem Beispiel. Schnee quietschte unter ihm, und der Wind fuhr in sein Sweatshirt. Ebba kroch an der Dachkante entlang, in einer Art mit Blei ausgeschlagenen Dachtraufe. Zu ihrer Linken stieg das Dach sanft an, zu ihrer Rechten war eine zehn Zentimeter hohe Steinkante, die nicht annähernd hoch genug war, um irgendeinen Halt zu bieten, falls sie abrutschte. Sollte er da etwa auch entlangkrabbeln? Ja, das sollte er, denn sie schaute sich um und wartete auf ihn. O Scheiße.
    Tom kroch los, den Blick fest auf die schneegefüllte Traufe geheftet, durch die er sich vorwärtsschob. Das war doch glatter Irrsinn. Hier auf dem Dach gab es nichts, wo Joe sich verstecken könnte. Die drei anderen Glockentürme waren leer, das konnte man von unten sehen, vom Boden aus. Man konnte durch sie hindurch den Himmel sehen. Sie hielten auf den an der Nordostecke zu, den, der anscheinend immer im Schatten lag, weil die Sonne ihn nicht erreichen konnte. Tom konnte ihn über Ebbas Schulter hinweg erkennen, leer wie eine Schokoriegel-Schachtel am zweiten Weihnachtstag. Er konnte Sterne durch die Lücken zwischen den Säulen schimmern sehen, er konnte die Wolken ziehen sehen, er konnte die Silberkugel des Vollmondes sehen.
    Aber der Mond war doch hinter ihm.
    Evi brauchte nicht lange zu raten. »Wer ist Heathers Vater?«, fragte sie. »Ihr eigener Vater? Sinclair?«
    Jennys Gesicht verzerrte sich. »Raten Sie weiter.«
    Evi überlegte schnell. Sie wusste so wenig über die Renshaws, nur das, was Harry und die Fletchers ihr erzählt hatten. Von Brüdern hatte sie nichts gehört, sie kannte nur den Vater: ein hochgewachsener, weißhaariger Mann von sehr vornehmem Äußeren, und den …
    »Doch nicht etwa Ihr Großvater?«, stieß sie mit leiser Stimme hervor, voller Angst, dass sie sich geirrt haben könnte. Die Miene der anderen Frau verriet ihr, dass sie sich nicht geirrt hatte.
    »Aber er ist doch …« Wie alt war Tobias Renshaw? Er musste über achtzig sein.
    »Als Heather zur Welt kam, war er Ende sechzig. Und gut in Fahrt.«
    »Ihre arme Schwester. Wie meinen Sie das, gut in Fahrt?«
    Jennys Blick blieb weiter fest auf Evi geheftet. Sie sagte nichts.
    »Er hat Sie auch missbraucht, nicht wahr?«, fragte Evi.
    Nichts, nur ausdrucksloses Starren.
    »Das tut mir entsetzlich leid«, sagte Evi.
    Nichts.
    »Wie alt waren Sie? Als es angefangen hat?«
    Jenny stieß einen tiefen Seufzer aus und trat dann zurück, bis sie gegen die Esszimmertür stieß. Plötzlich hatte Evi das Gefühl, wieder atmen zu können. »Drei. Vielleicht vier. Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte Jenny. »Es gab keine Zeit in meiner Kindheit, wo ich nicht wusste, wie es sich anfühlt, von großen, derben Händen befingert und begrabscht zu werden.« Sie wandte sich um und sah Evi unverwandt an. »Er ist immer reingekommen, wenn ich gebadet habe, und hat mich gewaschen. Ich hatte nie die Verfügungsgewalt über meinen eigenen Körper, nie. Können Sie sich vorstellen, wie das ist?«
    »Nein«, antwortete Evi wahrheitsgemäß. »Das tut mir ja so leid. Hat er Sie vergewaltigt?«
    »In dem Alter? Nein, dafür war er zu clever. Wenn man eine Vierjährige vergewaltigt, dann merkt es irgendjemand. Er hat über mir masturbiert, hat mich mit einer Hand angefasst und mit der anderen an seinem Sie wissen schon hantiert. Als ich ein bisschen größer war, hat er mich gezwungen, ihn zu lutschen. Ich war zehn, als das mit dem Vergewaltigen losging. In gewisser Weise war ich überrascht, dass er so lange gebraucht hat. Verstehen Sie, ich habe ihn gehört, mit Christiana. Ich wusste, was kommt.«
    Evi hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Gleich würde sie umfallen. Unwillkürlich streckte sie den Arm aus und packte abermals das Geländer. »Wie furchtbar«, stammelte sie. »Warum haben Sie es denn niemandem erzählt? Ihren Eltern, Ihrer Mutter, die hätte doch bestimmt niemals …« Sie stockte. Jenny brauchte nicht zu antworten. Kinder verrieten nichts. Ihnen wurde gesagt, sie

Weitere Kostenlose Bücher