Bluternte: Thriller
Energieverschwendung. Harry schob sich um den Schacht herum, bis er sich auf den Bauch legen und die Kette erreichen konnte.
Jenny stand im Flur, ganz dicht vor der Haustür. Die Straßenlaterne schien durch das farbige Glas des Flurfensters und verlieh ihrem Haar einen eigenartigen Lilaton. Doch ihr Gesicht war so weiß wie der Schnee draußen. »Natürlich weiß ich, wer sie ist«, sagte sie traurig. »Wir haben fast zehn Jahre lang im selben Haus gewohnt. Sie ist meine Nichte.«
Einen Augenblick lang dachte Evi, sie hätte sich verhört. »Ihr Nichte?«, wiederholte sie.
Jenny nickte und schien sich zusammenzureißen. »Christianas Tochter«, sagte sie. »Gehen wir nach oben? Alice hat extra gesagt, wir sollen nach Millie sehen.«
Evi konnte sie nur anstarren. Sie und Harry hatten von abgelegenen Bauernhäusern gesprochen, von Cottages hoch oben im Moor, doch das Mädchen hatte die ganze Zeit über gleich um die Ecke gewohnt, mitten im Herzen des Dorfes.
»Sie leidet unter angeborener Hypothyreose, nicht wahr?«, fragte sie.
Jenny machte einen Schritt auf sie zu. »Eine direkte Auswirkung der Bodenbeschaffenheit hier oben«, meinte sie. »Das war schon seit Ewigkeiten die Familienseuche. Wenn wir ein paar von unseren Lebensmitteln einfach im Supermarkt kaufen würden, würde das nicht passieren.« Sie erreichte Evi am Fuß der Treppe.
»Aber das kann man doch jetzt behandeln.« Evi machte einen kleinen Schritt zur Seite und stellte sich der anderen Frau entschlossen in den Weg. »Man kann Hypothyreose bei der pränatalen Diagnostik feststellen, und das Baby bekommt dann Medikamente. Diese Krankheit ist praktisch ausgerottet.«
Jenny seufzte. »Und trotzdem haben wir ein Musterexemplar direkt vor der Haustür. Wissen Sie, ich sollte wirklich nach Millie sehen. Darf ich vorbei?«
»Wie ist das passiert?«, fragte Evi. Sie wusste nicht genau, warum es wichtig war, so viel wie möglich über das Mädchen herauszufinden, sie wusste nur, dass es wichtig war. »Hat Christiana die Behandlung abgelehnt?«
»Christiana wurde nie eine Behandlung angeboten«, erwiderte Jenny. »Sie war während ihrer ganzen Schwangerschaft im Haus eingesperrt, und bei der Geburt war eine Hebamme hier aus der Gegend dabei, die eine Menge Geld dafür bekommen hat, dass sie den Mund hält. Die Geburt ist niemals gemeldet worden.« Ihr Blick wanderte aufwärts, zu einer Stelle oben auf dem Flur. Evi widerstand der Versuchung, sich umzudrehen.
»Wie viele Leute wissen von ihr?«, fragte sie. Sie konnte es kaum glauben, dass niemand den Fletchers von Heathers Existenz erzählt hatte, besonders nachdem Tom angefangen hatte, sein seltsames Mädchen zu sehen.
»Relativ wenige, glaube ich«, antwortete Jenny. »Nicht einmal Mike weiß, dass es sie gibt, allerdings ist der auch nicht gerade die hellste Birne im Kronleuchter.«
Irgendwie war Evi einen Schritt zurückgetreten. Sie stand auf der untersten Stufe und schüttelte den Kopf. »Wie ist das möglich?«
»O, Evi, Sie würden sich wundern, was alles geht, wenn einem ein ganzes Dorf gehört«, meinte Jenny. Ihre Hand streckte sich nach dem Geländer aus. Sie fasste es Zentimeter von Evis Hand entfernt. »Natürlich darf sie das Haus nicht verlassen. Christiana verbringt den größten Teil des Tages mit ihr, mit Vorlesen und einfachen Spielen. Christy hat unendlich viel Geduld, aber wenn sie eine Pause braucht, dann guckt Heather Sesamstraße. «
»Sie wird den ganzen Tag im Haus gehalten?«
Jenny nickte. »Niemand vom Personal geht jemals nach oben«, erklärte sie. »Christiana kümmert sich um die oberen Stockwerke. Wenn alle Angestellten nach Hause gegangen sind, darf Heather im Garten spielen«, fuhr sie fort. »Um ehrlich zu sein, ich glaube, ein oder zwei Leute wissen doch von ihr – als sie älter wurde, ist sie ziemlich gut darin geworden, sich nachts rauszuschleichen, manchmal sogar tagsüber. Sie hat eindeutig einen Narren an Alices und Gareths Kindern gefressen. Aber die Leute halten den Mund, sie wollen es sich nicht mit Dad verderben.«
Irgendetwas wurde in Evis Brust immer enger, etwas, das über die Sorge um die Kinder der Fletchers hinausging. Ein junges Mädchen war ihr ganzes Leben lang gefangen gehalten worden – ebenso in einem ohne Notwendigkeit geschädigtem Körper wie in ihrem eigenen Zuhause. »Warum?«, fragte sie. »Warum in aller Welt verstößt Ihre Familie derart gegen das Gesetz?«
Jenny blinzelte zweimal mit ihren haselnussbraunen Augen. »Sie
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