Blutfeinde: Norwegen Krimi (German Edition)
ihrer Tasche nach Schlüsseln. Dann erstarrte sie. Sie hatte Petter Bull entdeckt. Drei Meter trennten die beiden – höchstens.
Petter Bull sagte etwas.
Die Frau antwortete.
Die beiden kannten sich. Doch ihr Verhältnis war nicht herzlich.
Gunnarstranda kurbelte sein Fenster herunter, um zu hören, was sie sagten. Es war unmöglich. Er blickte hoch. Ein großer Baukran hob eine Palette mit Mauersteinen an einer Baufassade in die Luft. Der Motor pfiff und dröhnte. Ein Lastwagen ließ mit ohrenbetäubendem Lärm eine Ladung Schotter auf den Boden rauschen.
Petter Bull und die Frau führten ein erregtes Gespräch. Bulls schwerer Oberkörper wankte – er argumentierte und drohte mit den Fäusten.
Plötzlich geriet Bull in Bewegung. Er ging um den Wagen herum, öffnete die Tür, stieg ein und fuhr los. Die Frau blieb reglos stehen und sah dem davonfahrenden Auto nach. Nach einer kleinen Ewigkeit schien sie wieder zu sich zu kommen. Sie ging zur Haustür, schloss sie auf und trat ins Haus.
Gunnarstranda blieb sitzen und sah vor sich hin. Was hatte er gerade beobachtet? Zwei Parteien. Die eine hatte auf die andere gewartet. Drohungen? Auf jeden Fall ein Streit.
Aber waren dies Petters Bulls private Angelegenheiten? Ein banaler Krieg mit einer Exgeliebten? Oder –?
Gunnarstranda stieg aus dem Wagen. Ging zu der Tür, die die Frau hinter sich geschlossen hatte. Warf einen Blick aufs Klingelbrett. Dann notierte er alle Namen, die dort standen.
Wieder im Auto, blieb er einen Moment sitzen und überlegte, bis sein Handy klingelte. Es war Ingrid Kobro, die fragte, ob er wisse, wo Frølich sei.
»Versuch’s im Kontrollraum«, sagte Gunnarstranda verdrießlich. »Was gibt’s denn?«
»Du weißt doch, ich bin die Glocke, die schlechtes Wetter ankündigt«, sagte Ingrid Kobro gedehnt. »Aber diese Meldung betrifft auch dich in allerhöchstem Maße.«
21
Frølich fand es unnötig, dass sie beide fuhren. Aber Gunnarstranda hatte sich auf keine Diskussion eingelassen. Frølichs deutlichem Ärger zum Trotz war er mitgefahren.
Für Gunnarstranda war es ein besonderer Fall geworden. Er hatte den Toten einmal gekannt. Er hatte auch die Frau des Mannes gekannt. Er hatte sie gekannt, ohne es zu wissen. Sie hatten ihn dazu gebracht innezuhalten. Es war etwas geschehen. Sie hatten es irgendwie geschafft, dass er plötzlich den Fokus veränderte und in sich hineinschaute. Er ahnte nicht, was diese Veränderung bedeutete, und es war zu früh, um zu sagen, ob es ihm unangenehm war oder nicht. Sicher wusste er nur, dass ihm Arne Werner Welhaven plötzlich wichtig geworden war.
Die Stelle war nicht schwer zu finden. Als sie auf den Wanderpfad kamen, der vom Parkplatz wegführte, verhandelte Frølich am Handy mit der örtlichen Polizei. Sie gingen hintereinander auf einem schmalen Pfad am Fluss entlang, an einer verlassenen Sennhütte vorbei. Etwas weiter vorn verengten sich die Berghänge zu einer Felsenschlucht.
»Ein Wasserfall«, sagte Frølich angespannt, »heftig.«
Sie kletterten mühsam auf dem spiralförmig abwärtsführenden Pfad nach unten. Gunnarstranda hörte das Rauschen des Wasserfalls, und es grauste ihn vor dem Rückweg.
Endlich entdeckten sie einen Polizisten, der in einer Vertiefung im Flussbett unterhalb des über zwanzig Meter hohen Wasserfalls watete.
Der Landgendarm hob einen Arm zum Gruß.
Unterhalb des beeindruckenden Wasserfalls lagen zwei große Felsblöcke, die den Fluss in einem tiefen Becken stauten. Im inneren Teil des Beckens, hinter dem einen Felsen, umspülte das Wasser des Flusses still den Toten. Er war nackt und trieb mit dem Gesicht nach unten. Nur der Rücken und die Unterarme waren zu sehen.
Der Anblick rief Gunnarstranda ein Erlebnis aus seiner Kindheit in Erinnerung. Er war zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen. Sie hatten zu mehreren Jungen auf den Baumketten auf einem See in der Nordmarka gespielt. Sie waren von Baumstamm zu Baumstamm gesprungen und über die Stämme balanciert. Einzelne Stämme waren ganz weiß und ganz ohne Rinde gewesen. Ein paar hatten etwas abseits gelegen, ganz für sich allein schwammen sie unterhalb der Wasseroberfläche, so wie die Leiche von Arne Werner Welhaven.
Wer war damals beim Spiel auf den Baumstämmen dabei gewesen? Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Hilmar musste dabei gewesen sein, denn er liebte es, Hechte zu angeln. Die Baumketten waren ein guter Angelplatz gewesen. Das Spiel hatte vermutlich als Angeltour
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