Blutfeinde: Norwegen Krimi (German Edition)
weniger feine Familien außen vor zu halten.«
Gunnarstranda blickte zum Bach hinüber. Sein Verlangen nach einer Zigarette war geradezu schmerzhaft.
»Manchmal hatte ich das Gefühl, dass wir ein Gesellschaftsleben light führten. Ich meine, dass das kleine Dorf da im Westteil der Stadt so verdammt viel Energie drauf verwendete, seine Kinder zu einer Elite zu machen, das ist doch totale Verschwendung, irgendwie.«
»Alles hat seine Zeit«, sagte Gunnarstranda kurz. »Sogar ich gehöre jetzt zur Elite. Früher haben die Leute mich im Laden schief angesehen, weil ich ein Einkaufsnetz dabeihatte, wenn ich einkaufen ging. Sie glaubten, ich wäre zu geizig, um Plastiktüten zu kaufen. Jetzt ernte ich Anerkennung, weil die Leute mich für besonders umweltbewusst halten.«
»Aber das sind Sie ja auch.«
»Nicht mehr als andere. Ich habe schon als Kind gelernt, das Netz mit zum Einkaufen zu nehmen. Seitdem habe ich die Gewohnheit beibehalten.«
Sie sah in ihr leeres Bierglas. Gunnarstranda machte den Kellner auf sich aufmerksam, indem er einen Finger in die Höhe streckte. Der Mann kam mit einem neuen Halben und stellte ihn zwischen sie auf den Tisch.
Sie umfasste das Glas und sagte: »Ich bin jetzt ganz allein. Ich habe keine Ahnung, warum Papa das getan hat. Aber ich weigere mich zu akzeptieren, dass er sich jetzt – zwischen fünfzig und sechzig – plötzlich als Versager gefühlt hat. Es muss etwas passiert sein.«
»Sind Sie sicher, dass dieses Suchen nach einem sensationellen Vorfall nicht nur ein Ausdruck Ihrer Trauer ist?«
»Ich will nicht glauben, dass sein Selbstmord von dem tristen traditionellen Leben ausgelöst wurde, das er geführt hat. Was für ein Mann war mein Vater denn? Ein Streber, der sich das Leben nehmen musste, als er scheiterte? Ich kann es nicht akzeptieren, dass er keinen anderen Ausweg sah, als sich umzubringen, nur weil sein Leben leer geworden war. Was bin ich denn dann? Was habe ich bedeutet?«
Gunnarstranda antwortete nicht.
Ihre Augen glänzten. Sie blinzelte mehrmals.
»Hier«, sagte er und reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher.
Sie nahm sie und wischte sich Augen und Nase ab. »Danke. Wo haben Sie die gefunden?«
»Alte Gewohnheit. In diesem Anzug habe ich immer eine solche Packung. Das ist mein Beerdigungsanzug. In der Regel muss ich auf Beerdigungen weinen.«
Sie drückte die Serviette noch einmal unter die Augen und blinzelte wieder.
»Sie glauben also nicht, dass er sich umgebracht hat, um eine lange Depression zu beenden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Haben Sie eine Idee, warum er es getan hat?«
»Nein.«
Fride Welhaven blieb wie in Trance sitzen, den starren Blick nach innen gerichtet und die Hände um die Serviette gefaltet.
»Und Ihre Mutter?«
»Mama war abwesender, in sich gekehrter. Aber auch sie hatte eine Art Schamgefühl, weil sie aus einer Arbeiterfamilie kam. Marius und ich sind ja im Makrellbekken groß geworden, mussten aber zum Beispiel auf die Kathedralschule gehen.«
»Mussten?«
»Mussten und mussten, aber es wurde ganz einfach erwartet. Die nächste weiterführende Schule war Persbråten, aber sie war nicht gut genug. Die Kathedralschule war angesagt, weil es eine Eliteschule ist – oder war . Auf jeden Fall war es verdammt schwer, reinzukommen. Von der ersten Klasse an haben Marius und ich unter dem Druck gelebt, dass wir es schaffen müssen, auf diese Schule zu kommen. Allein das – total vergeudet, all die Stunden, die ich über vollkommen sinnentleerten Hausaufgaben gesessen habe.«
»Wissen ist nie sinnlos.«
»Aber es ging ausschließlich darum, meine Eltern zufrieden zu stellen, ihnen dabei zu helfen, ihre Scham zu betäuben. Jetzt sieht man ja, was der Einsatz genützt hat.«
Sie schwieg. Schluckte. »Und Sie?«, fragte sie plötzlich hitzig. »Was ist denn mit Ihnen, sind Sie vielleicht glücklich?«
Er betrachtete sie, ohne zu antworten.
»Sind Sie verheiratet?«
»Gewesen.«
»Geschieden?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie schwiegen beide und schauten über den Frognerpark. Ein Pärchen wanderte langsam Hand in Hand unter den Bäumen auf dem Gehweg am Fluss entlang. Die beiden betraten die Holzbrücke, blieben dicht beieinander stehen und sahen ins Wasser, bevor sie sich heiß und innig küssten.
Fride Welhaven betrachtete das Paar und fragte: »Glauben Sie, die wissen, was Glück ist?«
Gunnarstranda folgte ihrem Blick und konnte den Teufel unter dem Kehlkopf nicht länger beherrschen. »Nein. Aber früher
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