Blutfeinde: Norwegen Krimi (German Edition)
war so stark, dass die Hände, die den Revolver hielten, vom Druck hochgerissen wurden. Ein kleines Beben ging durch seinen Körper. Ingenieur Ruben Andresen genoss dieses Erlebnis, bevor er den Revolver niederlegte. Er drückte auf den Knopf an seiner Hüfte. Ein Motor startete. Die Zielscheibe glitt langsam auf ihn zu. Mit seinem privaten Finnenmesser und einer Kneifzange grub er vorsichtig das Projektil aus dem Braten. Zusammen mit der leeren Hülse steckte er es in einen Plastikbeutel. Dann presste er das Fleisch wieder zurück und sah die zweite Waffe an. Er lud auch diese Pistole. Justierte den Ohrschutz. Fasste den Kolben mit beiden Händen, zielte und drückte ab. Die Reaktion von Händen und Handgelenken wiederholte sich – aber diesmal wirkte sie noch kräftiger. Er dachte an einen Ochsen, der am Seil riss, und versuchte sich den potenten Stoß in der Hand eines Menschen vorzustellen, der einen anderen erschoss. Niemand würde am Effekt dieser Waffe zweifeln.
Er holte die Zielscheibe wieder heran. Verwahrte die zweite Kugel in einem anderen Beutel. Dann hielt er die beiden transparenten Plastikbeutel hoch und beäugte skeptisch das Resultat. Er legte die Beutel nieder. Nahm den Ohrschutz ab. Das musste fürs Erste genügen. Wenn nicht, müsste er zum nächsten Supermarkt gehen und einen ordentlichen Schweinebraten kaufen.
36
Als Vibeke Starum schließlich beschloss, zur Polizei zu gehen, hatte sie einen langen und gewundenen Weg mit vielen Abschweifungen und Umwegen hinter sich. Ihre berufliche Laufbahn hatte in einem Pflegeheim begonnen. Gegen Ende der achtziger Jahre, als Freunde und Bekannte die Kneipen und Straßencafés im Oslo der Yuppies bevölkerten, absolvierte sie einen Grundkurs auf der Landwirtschaftsschule, durchlebte ihre grünste Periode als Umweltaktivistin und arbeitete als Vertretung bei einem Milchbauern in Trysil. Es kam vor, dass sie in ihrem jetzigen Job als Ermittlerin auf frühere Erfahrungen zurückgriff. So hatte der Milchbauer ihr beigebracht, dass nur eins half, wenn der Ochse störrisch wurde: Stelle ihn, sieh ihm starr in die Augen und zeige ihm, wer der Chef ist . Diesen alten Ratschlag befolgte sie auch jetzt, als sie aus dem Wagen stieg und mit schnellen und bestimmten Schritten auf Gunnarstranda zuging. »Sie sind von dem Fall abgezogen«, bellte sie ihn schon von weitem an, »und dann wollen Sie bei dieser Vernehmung anwesend sein? Sind Sie völlig plemplem? Oder glauben Sie vielleicht, ich wäre plemplem?«
Gunnarstranda erwiderte nichts. Er legte die Hände auf den Rücken, drehte sich um und trottete langsam den Weg entlang, während Starum neben ihm herhechelte.
»Glauben Sie, Sie können überall machen, was Sie wollen? Was glauben Sie, was mit mir passiert, wenn ich erzähle, dass ich Sie an einem Verhör habe teilnehmen lassen?«
Er drehte sich lächelnd zu ihr um: »Haben Sie vor zu lügen, Starum?«
»Nein«, bellte sie wütend. »Aber ich führe dieses Verhör allein durch. Sie sind abgezogen, und ich habe nicht die Absicht, diese Entscheidung zu hinterfragen. Und selbst wenn ich es noch so sehr wollte, kann ich es auf keinen Fall tun, und das wissen Sie ganz genau.«
Gunnarstranda blieb stehen. Starum ebenfalls.
Sie war außer Atem und wütend.
Er stand ganz still da und betrachtete sie.
»Und was nun?«, bellte sie unvermindert hitzig.
»Beantworten Sie mir nur eine Frage«, sagte Gunnarstranda ruhig. »Wollen Sie wissen, wohin wir gehen und nach wem wir fragen wollen, oder nicht?«
Eine halbe Stunde später betraten die beiden die Rezeption des Sogn Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Gunnarstranda blieb an der Tür stehen, während Starum mit dem Mann an der Anmeldung sprach – einem Jüngling mit Musketierimage in Form eines Spitzbarts, eines schmalen Backenbarts und wogendem, nach hinten gekämmtem Haar. Ein großer Hund mit langen Ohren lag unter dem Fenster. Er keuchte in der Hitze, stand auf, um die Liegestellung zu ändern, stützte sich ein paar Sekunden auf die Vorderpfoten und ließ sich dann schwer zu Boden sacken.
Vibeke Starum drehte sich zu Gunnarstranda um. »Wir müssen auf ihre Therapeutin warten«, sagte sie. »Das kann ein Weilchen dauern.«
»Warum?«
»Sie hat hier nur eine halbe Stelle und betreibt nebenher eine private Praxis. Heute arbeitet sie nicht hier im Haus.«
»Dann warten wir eben.« Gunnarstranda setzte sich auf einen der Stühle neben dem Hund. Vibeke Starum blieb stehen und sah aus dem
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