Blutfeuer
Judenstraße 4 nicht mehr unter den Ansprechbaren.
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Die siebenköpfige Mountainbikertruppe hatte bereits mehrere Hundert
Höhenmeter von Oberstdorf aus das Rappenalptal hinauf hinter sich gebracht.
Schon nach der Hälfte der Strecke hatte sich Frank Jessentaler genötigt
gefühlt, disziplinarisch einzugreifen und wilde Leistungswettbewerbe zwischen
den männlichen Teilnehmern zu unterbinden. Für ihn als langjährigen
Mountainbikeguide war das nichts Neues. Kaum waren Frauen im Spiel, gingen die
Ruhe und entspannte Freude auf die zu bezwingenden Berge hoffnungslos im tiefen
See des ausgeschütteten Testosterons unter. Plötzlich traten selbst bei
hochintelligenten Menschen archaische Verhaltensweisen auf, und männliches
Imponiergehabe und plötzlicher Leistungsstress bestimmten die ganze
Veranstaltung. Auch heute hatte er einschreiten und die beiden Hengste Wolf und
Ludwig nach mehreren ausufernden Antritten am Berg zurückpfeifen müssen. Wolf
konnte es anscheinend nicht verknusen, wenn sich ein anderer Geschlechtsgenosse
auch nur eine Reifenbreite vor ihm befand. Also musste Frank Jessentaler als
Organisationschef und Gruppenführer wohl oder übel ein Machtwort sprechen. Seit
nunmehr einer Stunde führte er selbst wie ein Safetycar bei der Formel 1 die
Gruppe nach oben. Endlich kam die Alm in Sicht, an der er wie üblich die erste
Rast eingeplant hatte. Er bedeutete allen, abzusteigen und sich einen Platz auf
den rohen Bänken des ausgesetzten Felsvorsprunges zu suchen. Die Alm bescherte
ihnen einen wundervollen Blick auf das tief unter ihnen liegende Oberstdorf und
seine umliegenden Nachbargemeinden.
Der Ort war ein beliebter Startpunkt für Alpenüberquerungen.
Eigentlich war das alpine Abenteuer sogar von einem Oberstdorfer erfunden
worden, der nun dort ein äußerst erfolgreiches Fahrradgeschäft betrieb.
Oberstdorf selbst verdankte seine ausgesprochen schöne landschaftliche Lage am
Ende eines tief eingeschnittenen Tals der Allgäuer Alpen der Iller, die im
Ortsbereich entsprang. Die Häuser im Ortskern waren nicht gar so alt wie der
Fluss, waren sie doch Mitte des 19. Jahrhunderts nach einem fürchterlichen
Großbrand alle neu aufgebaut worden. Das Bergpanorama vom mehrfachen
Übernachtungsmillionär Oberstdorf aus war unvergleichlich. Umrahmt von
Nebelhorn, Söllereck oder Fellhorn hatte aber auch der Ort selbst mit einigen
Superlativen aufzuwarten. Deutschlands erste Skiflugschanze war ebenso hier zu
finden wie Deutschlands größte Kabinenbahn oder der längste Schlepplift der
Bundesrepublik das Söllereck hinauf. Lauter Sachen zum touristischen Angeben.
Diese und andere Gründe hatten den gebürtigen Schweinfurter Frank
Jessentaler bewogen, seine Geschäftsidee genau hier in die Tat umzusetzen. In
Oberstdorf und im angrenzenden Kleinwalsertal bot er allen Mountainbikern, die
wollten und dafür auch zahlten, Tageausflüge oder komplett organisierte
Mehrtagestouren an. Inzwischen war er der Alpenpapst in der Szene: Niemand
sonst hatte bisher so viele Menschen mit dem Rad über die Alpen gebracht. Was
er während der Tour an Regeln vorgab, war anerkannt und Gesetz. Kraft seiner
Erfahrung hatte er es bisher auch immer geschafft, glückliche und vor allem
unverletzte Gäste wieder auf die Heimreise zu schicken. Dafür war bisweilen
eine gewisse Durchsetzungsfreudigkeit unabdinglich, und ihm schwante, dass es
bei dieser Gruppe nicht anders sein würde. Aber jetzt wurde erst einmal
gegessen, damit jeder seinen Blutzuckerspiegel wieder hochfahren konnte. Auch
diese Truppe würde er schon in den Griff kriegen, dachte er, während er im
Stillen seine Teilnehmer begutachtete. Die beiden Mädels wirkten austrainiert
und auch sonst einigermaßen souverän. Eddi Schorn und Klaus Kulpa sahen nicht
ganz so fit aus und hielten sich bereits heute konsequent am Ende des kleinen
Feldes auf, was ihnen aber nicht viel auszumachen schien. Für männliche
Verhältnisse waren sie psychisch gesehen wohl einigermaßen auf der sicheren
Seite, dachte Frank Jessentaler und grinste in sich hinein.
Größere Sorgen machte er sich um das seltsame Pärchen Ronald Wolf
und Sigismund Ludwig. Sie waren zusammen angereist und hatten sich ihm als
Freunde vorgestellt, doch verhalten hatten sich die beiden bisher wie zwei
Gladiatoren im Circus Maximus seinerzeit in Rom. Ronald Wolf war bis in die
letzte Körperfaser durch Krafttraining geformt und zeigte das auch, wo und wie
er nur konnte. Zudem schien er extrovertiert veranlagt zu sein
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