Blutfeuer
erkennen.
Tropische Wirbelstürme im Mittelmeer – noch dazu im
Winterhalbjahr – sollte es nach gängigem Verständnis der Entstehungsprozesse
von solchen Ereignissen eigentlich nicht geben. Dennoch bildete sich am 14.
Januar 1995 im südlichen Mittelmeer ein Wolkenwirbel, der die typischen
Merkmale eines Atlantikhurrikans aufwies. Wolkenstruktur, Kerndruck und
maximale Windgeschwindigkeiten entsprachen durchaus einem Sturm der
Saffir-Simpson-Kategorie 1.
Im März 2004 bildete sich vor der brasilianischen Küste ein
Sturmsystem, das in seinem weiteren Verlauf wesentliche Merkmale eines
tropischen Hurrikans zeigte und sich schließlich zu einem voll ausgeprägten
Wirbelsturm der Saffir-Simpson-Kategorie 1 verstärkte. Bis dahin stufte man
auch diese Region aufgrund der niedrigeren Temperaturen im Südatlantik als
hurrikanfrei ein.
(Ernst Rauch,
Wetterkatastrophen und Klimawandel, Münchener Rück)
»Das ist ein Hurrikan, oder
nicht?«, fragte Luca Brentone seinen Kollegen, obwohl er die Antwort schon
kannte. Die meteorologische Situation konnte eindeutiger nicht sein. »Aber ein
Hurrikan im Mittelmeer? Das gab’s doch noch nie!«
»Irgendwann ist immer das
erste Mal«, erwiderte sein Vorgesetzter nüchtern. »Außerdem stimmt das so
nicht, aber das erzähl ich dir ein anderes Mal.« Giorgio Amadi begann zügig,
die wichtigsten Daten in eine E-Mail zu tippen.
»Was machst du jetzt?«,
fragte ihn sein Neukollege immer noch verunsichert.
Doch Giorgio Amadi hörte nur
noch halb hin. Er tat, was er schon zwei Stunden zuvor hätte tun sollen. Er
verfasste eine Unwetterwarnung für das westliche Mittelmeer. Adressaten waren
die Wetterdienste in aller Welt. »Das ist ein tropischer Sturm mit mittleren
Windgeschwindigkeiten von bereits hundertzwanzig Stundenkilometern, Tendenz
steigend«, erklärte er nüchtern. »Das Sturmsystem bewegt sich momentan mit
circa neunzig Stundenkilometern in westliche Richtung. Bei den aktuellen
Scherwinden wird der Sturm sich weiter verstärken und meiner Meinung nach diese
Richtung einschlagen.« Er drehte den Monitor nach rechts in Lucas Richtung,
sodass der den voraussichtlichen, nach Norden gebogenen Zugbahnverlauf am
Bildschirm erkennen konnte. »Der Sturm wird sich auf seiner Bahn weiter
aufladen und zum Hurrikan mutieren, Landfall circa in drei Tagen bei Genua mit
geschätzter Stärke zwei bis drei«, erläuterte er trocken. »Auf seinem Weg wird
er auch über uns hinwegziehen. Besonders schlimm wird es womöglich Catania
erwischen. Die Stadt liegt dem Ungeheuer genau im Weg.«
Luca Brentone blickte
Giorgio mit dem Ausdruck absoluter Ungläubigkeit an. »Ein Hurrikan über
Catania? Aber dann säuft die Stadt doch ab?«, meinte der jüngere Meteorologe
voller Entsetzen. »Bist du dir ganz sicher, dass du das nach Rom melden
willst?«
»Nein, bin ich eben nicht«,
flüsterte Giorgio. »Aber die Zahlen und Berechnungen für einen Hurrikan mache
ich nun eben auch zum ersten Mal. Aber klar, wenn das alles nicht stimmt, dann
bin ich in ein paar Tagen der König der Idioten und arbeitslos.« Er wischte
sich den frischen Schweiß von der Stirn. Dann drehte er sich zu seinem Kollegen
und sagte mit aufgesetzter Heiterkeit: »Aber ich habe auch eine gute Nachricht,
junger Freund. Da es für das Mittelmeer keine Namenstabelle für Hurrikans gibt
und wir nun die Ersten sind, die einen entdeckt haben, dürfen wir ihn selbst
taufen, mein lieber Neumeteorologe.« Er rieb sich theatralisch die Hände, legte
seine beiden Arme väterlich auf die Schulter seines Untergebenen und schaute
dabei tief und bedeutungsvoll in dessen Augen.
Luca Brentone bekam es mit
der Angst zu tun. Was hatte sein Chef vor?
Mit hochdramatischer Stimme
fuhr Amadi wie ein Oberlehrer dozierend fort: »Wir brauchen einen wirklich
angemessenen Namen für dieses fürchterliche, aber auch epochale Ereignis.«
Luca Brentone versuchte,
sich aus Giorgios schweißnassem Griff herauszuwinden, aber vergeblich.
»Einen Namen, der die
besondere Bedeutung dieses ungewöhnlichen und grausamen Naturphänomens angemessen
widerspiegelt. Einen Namen, der womöglich auf ewig mit dem Untergang Catanias
verbunden sein wird.« Giorgio Amadi näherte sein verschwitztes Gesicht der Nase
von Luca Brentone noch einige Zentimeter. »Ich denke, mit ›Luca‹ haben wir eine
ganz hervorragende Benennung gefunden, nicht wahr, mein Lieber? Du wirst
berühmt werden, Kleiner. Ungefähr so berühmt wie die Pocken oder die
Schweinegrippe.« Dann ließ
Weitere Kostenlose Bücher