Blutfeuer
mitgenommen hatten,
zogen die Berge hinauf, um dort Zuflucht zu suchen. Wie im Mittelalter
versprach sich der Mensch hinter dicken Mauern Schutz vor der heranziehenden
Gefahr. Trotz der latenten Panik lief dank THW und Feuerwehr alles halbwegs geordnet ab. Niemand von den Helfern konnte ja
automatisch voraussetzen, dass die Leute auf so einen Fall vorbereitet waren.
Ganz Coburg befand sich
bereits auf dem Weg zu den Trutzburgen, als der Tornado unten in der Stadt zu
wüten begann. Bis hinauf konnte man das Krachen, Splittern und Malmen der
wütenden Urgewalt vernehmen. Den fassungslosen Coburgern bot sich ein
Schauspiel wie in einem Science-Fiction-Film, als der dunkle Wirbel quer durch
ihre Stadt zog und alles mitriss, was ihm im Weg lag und stand.
Kurz hinter der neu erbauten
Autobahn Richtung Erfurt verlor sich der Tornado irgendwann in der Dunkelheit
und war nicht mehr zu sehen. Doch niemand traute sich den Berg hinunter. Die
Stadt beziehungsweise das, was von ihr noch übrig war, lag in absoluter
Dunkelheit. Es hatte sich eine gespenstische Stille ausgebreitet, nur von Süden
her waren Blaulichter zu sehen und Sirenen zu hören. Erschüttert starrten die
Coburger von der Veste in das schwarze Nichts hinab.
Dietmar Müller schaute
beunruhigt in die Nacht, dann sorgenvoll zu den blauen Kastentürmen auf der
Wiese gegenüber. Er war bis morgen früh um sechs Uhr der Schichtleiter, und das
war noch verdammt lange hin. Er sah, wie sich die Blitze näherten. Auch das Donnergrollen
wurde intensiver, und der auffrischende Wind zerzauste mit größer werdender
Vehemenz das inzwischen schüttere Haar des Fünfzigjährigen. Seit über zehn
Jahren war er bei der Firma Bionade in Ostheim in der Rhön beschäftigt und
hatte den ganzen glanzvollen Aufschwung miterlebt. Aus der kleinen
insolvenzgefährdeten Firma war ein weltweit operierender, hochprofitabler
Getränkekonzern geworden. Und das ganze Rhöner Umland profitierte davon.
Überall waren riesige Holunderplantagen entstanden, die mit Abstand beliebteste
Geschmacksrichtung, die hier fermentiert wurde. Ein Glücksfall für alle
Beteiligten. Bis, ja, bis das Management diese irrsinnige Preiserhöhung
durchgesetzt hatte. Trotzdem war der Platz in der Ostheimer Brauerei schon lange viel zu klein, um die immense Anzahl von Getränkekästen irgendwie
bewerkstelligen zu können. Also wurden hektarweise die Wiesen gegenüber
gepachtet, auf denen nun gestapelte blaue Würfel von locker fünfzehn Meter
Kantenlänge herumstanden. Tausende leerer Bionadekästen, gigantische
Skulpturen.
Als ein Tropfen auf Dietmar
Müllers Schulter landete, blickte er wieder besorgt nach oben. Es folgten noch
einer und noch einer. Urplötzlich wurde es für einen kurzen Moment ganz still,
und Dietmar Müller überfiel ein kalter Schauer. Irgendetwas Sonderbares lag in
der Luft, das konnte er spüren. Dann krachte ein Blitz nur wenige hundert Meter
entfernt in einen Baum, und heftiger Wind frischte auf.
Instinktiv wich der
Schichtleiter einen Meter zurück unter ein Vordach, von wo aus er aber das
Unternehmensareal noch immer gut im Blick hatte.
Von einem Moment auf den
anderen begann der Hagel. Tennisballgroß fielen die Körner vom Himmel, und
Dietmar Müller zog den Reißverschluss seiner Jacke bis hinauf zum Hals zu. Der
Wind wurde immer stärker, und die Hagelkörner flogen im ohrenbetäubenden Lärm
nun fast waagerecht von rechts nach links. Aus dem Wiesengrund linker Hand
konnte man anhaltendes Krachen hören, Blitze zuckten im Sekundentakt vom
Himmel. Dietmar Müller hielt sich an der Dachrinne an der Hausecke fest, als er
um die Ecke schaute. Was er sah, ließ ihn das Blut in den Adern gefrieren.
Nur wenige hundert Meter
entfernt erblickte er den schrägen, gewaltigen Schlauch eines Tornados in der
Wiese. Wie durch ein Blitzlichtgewitter von Fotografen wurde das Ungeheuer vom
Unwetter beleuchtet.
Unfähig, sich zu rühren, sah
der Braumeister den Wirbelsturm näher kommen. Sein Verstand konnte die
Situation so schnell nicht realisieren. Ein Tornado in Ostheim?
Das wirbelnde Naturereignis
beschloss, ihm eine gigantische Show zu bieten, die er sein Leben lang nicht
vergessen würde. Der Tornado nahm direkten Kurs auf die blauen
Bionadekästenskulpturen auf der Wiese und begann sich diese einzuverleiben. Ein
Würfel nach dem anderen löste sich in seine Bestandteile auf und wurde eins mit
dem Wirbel. Mit seiner neuen Fracht beladen, zog der Tornado nach rechts aus
dem Gesichtsfeld des
Weitere Kostenlose Bücher