Blutfeuer
geblieben. Immerhin hatte seine Zerstörungswut den Sturm
an Geschwindigkeit verlieren lassen, sodass er etliche Mitbringsel wie Autos,
Ziegelsteine oder Inneneinrichtungen in die Freiheit entließ. Außerhalb des
Ortes, in den Wiesen des Itzgrundes, tankte er dann erneut Kraft und hob das
Sportheim des Fußballplatzes wie ein Puppenhaus in die Höhe.
Monika Schlagbauer bemerkte
den Tornado erst, als es zu spät war. Als sie sich entrüstet umdrehte, zerrte
der Wirbel bereits an ihrem schwarzen Abendkleid. Ohne einen Laut von sich zu
geben, nur mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck wurde sie vom Boden gehoben
und in den breiten schwarzen Moloch gesogen. Als der Chauffeur zehn Minuten
später aus seinem Rohr gekrochen kam, war vom Tornado weit und breit nichts
mehr zu sehen, von Staatssekretärin Monika Schlagbauer allerdings auch nicht.
Nur die Blaulichter der Hilfskräfte und das abziehende Gewitter erleuchteten
eine gespenstische Szenerie.
Lagerfeld hetzte die
Bundesstraße 4 mit seinem Honda hinauf, immer den Tornado im Rückspiegel. Die
Heimsuchung von Mürsbach wurde gerade im Polizeifunk durchgegeben, in allen
Ortschaften von Bamberg bis Coburg war der Teufel los. In heller Panik stürzten
die Menschen aus den Häusern, um mit ihren Fahrzeugen zu fliehen. In
Kaltenbrunn bog Lagerfeld ab, weil die Autos bereits die Straßen verstopften.
Ab Großheirath, ein paar Kilometer vor Coburg, ging dann gar nichts mehr. Die
Polizei und die Feuerwehr mussten den Verkehr auf der B 4 komplett
einstellen. Die Menschenmassen wurden in Keller und sonstige als sicher geltende
Schutzräume gebracht, während sich der Tornado unaufhörlich näherte und
schließlich in Sichtweite Lagerfelds vorbeizog. Ein absolut unwirkliches und
zutiefst erschreckendes Erlebnis. Und er kannte keine Gnade. Historische
Ortschaften wie Kaltenbrunn, Untermerzbach oder Rossach wurden durch ihn
vollständig oder teilweise dem Erdboden gleichgemacht.
Lagerfeld gingen zahllose
Gedanken durch den Kopf. Natürlich hatte auch er schon von Tornados in
Deutschland gehört. Aber erstens fühlte sich so ein Naturphänomen im Fernsehen
ganz anders an als direkt vor seiner Nase, und zweitens hatte sich wohl
niemand, trotz Warnung der Klimaforscher, ein solches Monster mitten in seiner
Heimat vorstellen können. Trotz Konferenzen in Kyoto, Kopenhagen und sonstwo
interessierte sich die Natur einen Dreck für menschliche Zeitpläne und
halbherzige politische Vorgaben. Lagerfeld fröstelte bei der Vorstellung, dass
dieser Sommer erst der Anfang von dramatischen Umwälzungen ähnlicher Art sein
könnte. Nun gut, aber dieser Tornado war real, folglich hatte er jetzt damit
umzugehen. Am Ortseingang und in den Wiesen konnte er eine große Ansammlung von
Einsatzkräften des THW erkennen.
Er parkte an dem italienischen Restaurant »La Stazione«, welches einmal der
alte Bahnhof von Kaltenbrunn gewesen war. Es war von Rettungskräften regelrecht
umstellt.
Lagerfeld schaute, auf der
Terrasse des italienischen Restaurants stehend, hilflos dem Sturm hinterher.
Genau wie anderswo hatte er auch hier in Kaltenbrunn seine Spuren hinterlassen.
Das große Treffen von Vespa-Fahrern, das eigentlich hier stattfinden sollte,
hatte der Windwirbel plötzlich und drastisch beendet. Überall konnte man die
kleinen Roller demoliert und verbogen in den Itzwiesen und dem angrenzenden,
wunderschönen Spielplatz liegen sehen. Eine lächerliche Fingerübung für den
Wirbelsturm, der sich nun auf sein größtes Ziel zubewegte. Hoffentlich hatten
die Residenzler genug Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, dachte Lagerfeld. Es
sah nicht so aus, als würde der Wirbel vorzeitig in sich zusammenfallen. Das
könnte eine schlimme Nacht für das Coburger Land werden. Gerade als Lagerfeld
sich wieder in die provisorische Katastrophenzentrale im leer geräumten
Restaurant begeben wollte, meldete der Polizeifunk hektisch weitere gesichtete Windhosen
in Nordbayern. Lagerfeld stellten sich die Nackenhaare auf.
Bis hierhin hatte es wie
durch ein Wunder noch nicht sehr viele Tote gegeben, aber jetzt steuerte der
Tornado auf Coburg zu. Eine solche Stadt war in dieser kurzen Zeit nicht zu
evakuieren! Das THW hatte eine
Karenzzeit von höchstens dreißig Minuten errechnet. Doch bevor irgendjemand die
Coburger auch noch über einen offiziellen Fluchtplan informieren konnte,
wussten diese schon, was sie zu tun hatten. Die Fachhochschule und die Veste.
Lange Schlangen von Menschen, die nur das Allernötigste
Weitere Kostenlose Bücher