Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
nichts übrig.«
Karen schwieg. Sie hatte die Knie an den Oberkörper gezogen und wippte auf dem Sessel hin und her. Sie schien nachzudenken, weswegen Lucy abwartete, ob sie etwas erwidern würde. Aber sie sagte nichts, und Lucy stand auf, um zu gehen.
»Lucy.« Karens Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Glauben Sie wirklich, dass ich ihn wiedersehen werde? Dass er noch … lebt?«
Lucy kniete vor Karens Sessel und nahm ihre beiden Hände in ihre eigenen.
»Ich verspreche es Ihnen, Karen. Wir tun alles, was wir können, um ihn zu finden.«
Schon wieder machte Lucy ein Versprechen, von dem sie nicht wusste, ob sie es würde einhalten können. Dabei vermied sie das normalerweise, vor allem, wenn sie es mit Eltern in einer derartigen Situation zu tun hatte. Aber sie wusste, dass Plattitüden nicht ausreichen würden, um Karen die Kraft zu geben, die sie benötigte, um sich wieder ins Leben zu wagen.
»Wir finden ihn.«
»Er hätte mich nehmen sollen. Ich wäre freiwillig mitgegangen.«
Bei den Worten fuhr Lucy zurück.
»Wie meinen Sie das?«
»Es war so … friedlich. Nach einer Weile habe ich nichts mehr gedacht. Habe nicht mehr existiert, nichts gefühlt. Es gab keine Furcht. Nicht so wie hier. Nicht so wie seitdem an jedem Tag.«
Dissoziation. Das war üblich bei Opfern eines anhaltenden Traumas. Lucy wünschte, sie könnte Nick anrufen und sich von ihm beraten lassen.
»Das war ihre Art, mit dem Horror fertig zu werden. Damals. Als es nur um Sie ging. Aber Karen, das wird nicht funktionieren. Nicht jetzt. Nicht, wenn Sie für Darrin da sein wollen. Nicht, wenn Sie Olivia helfen wollen, das Ganze hier durchzustehen. Können Sie das? Ihren Kindern helfen?«
Ein seelenerschütternder Seufzer rasselte aus Olivias Brust.
»Ich werde es versuchen.«
»Sehr gut. Warum ziehen Sie sich nicht etwas anderes an und kommen nach unten zum Mittagessen?«
Lucy wartete so lang, bis Karen zögerlich genickt hatte, und ließ sie dann allein. Sie wusste, sie hatte Karen so weit gebracht, wie sie konnte. Sie erreichte gerade den unteren Treppenabsatz, als es an der Tür klingelte. Als sie öffnete, sah sie zu ihrer Überraschung Colleen Brady auf der Schwelle stehen. Sie trug keine Jacke, keine Mütze und hatte die Arme um ihren Körper geschlungen.
»Wussten Sie, dass man die Suchaktion abgeblasen hat? Einfach abgeblasen. Wo ist Kurt Harding? Ich will wissen, warum er entschieden hat, dass man aufhört, nach meinem Sohn zu suchen.«
Kapitel 30
Als Jenna die Aufregung an der Eingangstür mitbekam, kam sie schnell aus dem Arbeitszimmer gelaufen und sah Colleen Brady in der Tür stehen. Auf ihren Haaren schmolz der Schnee, ihre Augen waren vor Angst – oder Ärger – weit aufgerissen. Lucy bat Colleen hinein und geleitete sie zu einer ausladenden Ledercouch mit Blick auf die Fenster. Jenna hielt sich im Hintergrund. Ihr gefiel die Panik nicht, die von der Mutter ausging. Lucy schien sich daran nicht zu stören.
»Sie mussten die Suche unterbrechen. Nur vorübergehend.«
»Warum? Jemand erwähnte etwas von Entführern. Warum hat man mich nicht informiert? Haben die Entführer gesagt, dass es Marty gut geht? Haben Sie ein Foto oder ein Video geschickt? Bitte …«
Colleens Oberkörper sackte nach vorn. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf der Schieferplatte des großen Couchtisches ab und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ich ertrage das einfach nicht. Nichts zu wissen.«
Lucy legte einen Arm um die Schultern der weinenden Frau und zog sie an sich, um sie zu umarmen. Als sei sie eine Freundin. Kein Opfer.
»Ich weiß. Das weiß ich doch.«
Selbst Lucy musste ein paar Tränen verdrücken. Olivia und ihre Mutter erschienen auf dem oberen Treppenabsatz, um zu sehen, was unten vor sich ging. Karen Harding flüsterte ihrer Tochter etwas zu, woraufhin Olivia nickte, die Treppe hinunterkam und in die Küche ging. Jennas Telefon klingelte und sie zog sich wieder ins Arbeitszimmer zurück, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Ich habe sie gefunden! Morgan Ames. Lawrence, Kansas. Verschwand vor zwei Jahren, da war sie elf.«
»Gute Arbeit. Bist du sicher?«
»Es war schwierig, Fotos vom ganzen Gesicht aufzutreiben, aber das Bild vom Zentrum für verschwundene und misshandelte Kinder gleicht ihr bis aufs Haar, einschließlich des Muttermals über ihrer linken Augenbraue.«
»Gibt es Informationen über die Familie oder sind Gründe bekannt, warum sie verschwunden sein könnte?«
»Im Bericht steht, dass sie
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