Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Schnee an. In der Höhle würde es warm genug sein, aber Adam entschied sich, die Essensvorräte aufzustocken. Vielleicht käme ihm auch eine Idee, wie er sie aufwärmen könnte. Er bezweifelte, dass Sally zum Beispiel kalte Ravioli aus der Dose mochte, wie er das tat. Eine Laterne würde auch nicht schaden, für den Fall, dass sie eingeschneit werden würden. Vielleicht eine dieser schicken Campinglaternen. Oder er könnte sich eine Petroleumlampe von Stolfultz ausleihen. In der Scheune gab es haufenweise davon. Niemand würde eine oder zwei vermissen. Er schrieb das auf seine Liste.
»Musst du eigentlich in den Kindergarten?«, fragte er Sally. Er konnte sie nicht in die Stadt mitnehmen, aber im Kindergarten wäre sie gut aufgehoben. Sie schüttelte den Kopf und wirbelte Miss Priss in der Luft umher, als sei sie ein fliegendes Eichhörnchen und keine Katze. Miss Priss schaute ob dieser Demütigung verständlicherweise angesäuert drein.
»Nein. Aber nächstes Jahr komm ich in die Schule, wie die großen Kinder. Ich werde lernen, richtige Bücher zu lesen.«
Also gut. Kein Kindergarten.
»Ich muss in die Stadt.«
»Um nach Mommy zu sehen? Manchmal ist es schwierig, sie aufzuwecken.« Sallys Stimmchen wurde noch dünner. »Manchmal wacht sie morgens schnell auf, aber dann ist sie trotzdem schlecht gelaunt. Dann musst du ganz, ganz leise sein. Keine Zeichentrickfilme im Fernsehen, aber malen ist okay.«
»Ich werde nach deiner Mommy sehen. Sie wird stolz auf dich sein, weil du dich auf deinem ersten Abenteuer wie ein großes Mädchen verhältst.«
»Ich bin Dora, die Entdeckerin«, verkündete sie. »Wie geht Dora aufs Töpfchen, wenn sie den Dschungel erkundet? Hat sie auch einen Eimer?«
Adam hatte nicht die geringste Ahnung, wie Dora das handhabte, aber er kannte sie von Sallys Zeichnungen.
»Ich bin sicher, dass sie auch einen Eimer hat. Aber keine Höhle. Und erst recht nicht so eine schöne Höhle wie die hier.«
»Mit Freunden Dinge zu erkunden macht Spaß.« Sie nahm Adams Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen.
»Was würdest du sagen, wenn ich dir einen anderen Teil der Höhle zeige? Einen noch viel besseren? Dort kannst du warten, Bilder ausmalen und spielen, während ich nach deiner Mommy sehe.«
Mit ihrer freien Hand griff sie nach Miss Priss und kuschelte sich an die Stoffkatze. »Darf Miss Priss mitkommen?«
»Na klar. Wir würden doch nie Miss Priss allein zurücklassen.«
»Super. Du darfst Boots sein.« Der Affe Boots war ein Freund von Dora. Sie sprang auf und zog Adam mit hoch.
»Komm jetzt, Adam. Wir sind Entdecker!«
In der Nacht durchlebte Lucy wieder die drei Tage, die sie vor vier Jahren in New Hope verbracht hatte. Im Traum ging sie noch einmal Schritt für Schritt durch die Ermittlungen, die damals gar kein offizieller Fall waren und als sinnloses Unterfangen galten. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie in New Hope irgendetwas finden würde, erst recht nicht den Schlupfwinkel eines Serienmörders. Und als dann alles vorbei war, galt Lucy als Opfer. Nicht als Profi. Aber ihr schlafender Geist beschäftigte sich mit etwas anderem: Mit Adam Caine und ihrem gemeinsamen Weg durch den Berg. In ihren Alpträumen waren die Dunkelheit und die Schwärze so überwältigend, dass Lucy sie förmlich einatmete. In ihrem Inneren schwoll die Finsternis an und pulsierte durch ihre Venen. Peitschende Schmerzen, Schreie und das stakkatoartig wiederkehrende Bild von Marion Caine, wie sie, erhellt nur vom zitternden Strahl einer Taschenlampe, von dem Mörder in die Felsspalte gezogen wurde; von einem Mann, dessen Gesicht außer Marion niemand jemals deutlich gesehen hatte. Die Uhr auf dem Nachttisch verriet Lucy, dass ihre Alpträume immer nur ein paar Minuten dauerten. Aber jedes Mal, wenn sie erneut aufschreckte, kam es ihr vor, als habe sie nächtelanges Grauen durchlitten. Als sie am nächsten Morgen in ihr Büro kam und John Greally, ihren Chef, an ihrem Schreibtisch sitzen sah, wusste sie, dass ihr Plan, den Plushenko-Prozess zu beenden und nach New Hope zu fahren, dabei war, sich in Luft aufzulösen.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte John und nahm einen Schluck Kaffee aus einem von Lucys Bechern. Er behauptete, Lucys Kaffee schmecke besser, aber in Wirklichkeit kam er oft nur zum Plaudern nach unten. Vor allem, wenn er ein Problem hatte, das außerhalb der offiziellen Kanäle gelöst werden musste. Lucy pfefferte ihre Handtasche auf den Konferenztisch
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