Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
und lehnte sich gegen die Tischkante. Für die für den Vormittag angesetzte Gerichtsverhandlung trug sie ihr einziges »Powerkostüm« – die purpurne Farbe war dunkel genug, um geschäftsmäßig auszusehen, aber rot genug, um einschüchternd zu wirken. Sie hoffte, es würde den Verteidiger im Plushenko-Fall in der Defensive halten.
»Die gute Nachricht ist, dass sich Plushenko für schuldig erklärt hat. Deine Aussage gestern muss ihn das Fürchten gelehrt haben«, sagte John. Das waren tatsächlich gute Nachrichten. Kein Gericht. Sie konnte sofort nach New Hope. Es sei denn …
»Und die schlechte Nachricht?«
»Na ja, ganz so schlecht ist sie nicht. Ich habe sogar ein paar Strippen gezogen, um es möglich zu machen. Dein Termin mit den psychologischen Gutachtern findet heute statt.«
Lucy blinzelte ihn langsam an. Das hatte sie Megan abgeguckt. Es war weniger offensiv als verächtliches Augenverdrehen, aber beinahe genauso effektiv.
»Es kommt mir so vor, als hätte ich in den letzten Monaten nichts anderes getan, als mit Psychologen zu sprechen. Ich bin sicher, man kann ein paar meiner Beurteilungen auch für das halbjährliche Gutachten verwenden?«
»So läuft das nicht. Du weißt, dass sich jeder aus der Abteilung alle sechs Monate einem psychologischen Gutachten unterziehen muss. Es ist ein entspannter Tag für dich, Lucy. Geh da rein, stöhne und klage ein bisschen, erzähle ihnen, was ihre verdammten Tintenkleckse bedeuten, und der Rest des Tages gehört dir.«
Er breitete seine Hände aus, als überreiche er ihr ein Geschenk. »Es ist Freitag. Das gibt dir das ganze Wochenende zum Erholen. Hast du über mein Angebot, Urlaub zu nehmen, nachgedacht? Um diese Jahreszeit ist hier nicht viel los.«
John hatte es nie mit Sexualstraftaten oder Verbrechen an Kindern zu tun gehabt. Er wusste nicht, wie rigoros die psychologischen Gutachten waren, wie die Therapeuten in jedem Winkel und jeder Ritze des Unterbewusstseins herumstocherten, um die potentiellen Irren auszusortieren, jene Agenten, die durchdrehen und die Plushenkos dieser Welt im Alleingang bestrafen wollen könnten. Das entsprach nicht gerade ihrer Vorstellung von einem entspannten Tag. Aber er hatte es gut gemeint, weshalb sie ihn anlächelte und nickte, wie es sich für eine gute Spezialagentin geziemte.
»Ich ziehe mich dann mal lieber um, wenn ich den Großteil des Tages auf einer Couch verbringen werde.«
»Wunderbar. Und ich werde den nötigen Papierkram durchdrücken, damit du nächste Woche freinehmen kannst.«
Er schnappte sich die Kaffeetasse. Auf dem Weg zur Tür blieb er neben Lucy stehen.
»Manchmal ist es wichtig, dass wir uns daran erinnern, warum wir diesen Job machen. Erlebe etwas Schönes. Bring Megans Gesicht zum Strahlen. Nimm ein Schaumbad. Verdammt noch mal, bleib zu Hause und schalte alle Telefone aus, wenn du mich fragst. Aber Lucy, egal was du tust, du musst in besserer Verfassung wiederkommen.«
Sie reckte ihr Kinn und blickte ihn herausfordernd an. In den letzten zwei Monaten hatte sie alles getan, was ihre Vorgesetzten von ihr verlangt hatten.
»Willst du mir damit sagen, dass ich meine Arbeit nicht gut mache?«
»Ich sage, dass es ein Drahtseilakt ist, diesen Job zu machen und gleichzeitig für eine Familie zu sorgen. Betrachte deinen Urlaub als Sicherheitsnetz.«
Was zum Teufel sollte das heißen? Es war nicht Johns Art, seine Botschaften zu verschleiern. Er war ein Freund, ein langjähriger Freund.
»Sag jetzt nichts. In dem, was du machst, bist du die Beste. Aber manchmal kommt das auf dem Papier nicht so rüber. Die Oberen nehmen unsere Abteilung gerade mehr als gründlich unter die Lupe. Bald werden sie sich langweilen und sich um etwas anderes kümmern, und unser Leben ist wieder normal. Aber bis dahin musst du außerhalb von ihrem Radar bleiben, verstehst du?«
»Nein, verstehe ich nicht. Ich bin für diesen Job beinahe umgekommen. Meine Kollegen wären beinahe umgekommen. Meine Tochter wäre beinahe umgekommen. Wenn ihnen nicht gefällt, wie ich arbeite, dann …«
Vor lauter Wut zerbröselten ihr die Worte zu Staub. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Ihre Kiefermuskeln verkrampften sich. Greally nahm eine der Fäuste und zwang die Finger auseinander. Dann drückte er ihr die warme Kaffeetasse in die Hand.
»Nimm dir frei, Lucy. Der Job ist nicht alles. Auf lange Sicht ist er gar nichts, trotz all der guten Dinge, die wir tun. Nichts, verglichen mit Familie. Manchmal müssen wir uns das wieder
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