Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
hatte der Verteidiger gesorgt. Allerdings war es ihm nicht gelungen zu unterbinden, dass sie die kleine Tatsache erwähnte, dass ein Geständnis abgelegt worden war. Und diese kleine Tatsache hatte es in die Zeitungen geschafft, weshalb der Verteidiger gezwungen war, sie vor Gericht zu erwähnen. Hätte der Bundesstaatsanwalt die Aufnahme vorspielen dürfen, die Lucy von ihrer Unterhaltung mit Plushenko gemacht hatte, wäre dieser Prozess schon seit mehreren Tagen zu Ende.
Der Strafverteidiger wandte sich wieder seinen Notizen zu und gab seinem Mandanten mit einer Handbewegung zu verstehen, sich aufrecht hinzusetzen. Lucy lächelte die Geschworenen an. Sie war doch nur eine Tee kochende, italoamerikanische Übermutti, die einfach gut zuhörte, konnten sie das nicht sehen? Selbstverständlich wussten die Geschworenen nicht, wie erleichtert Männer von Plushenkos Schlag waren, wenn sie jemanden zum Reden fanden. Sie wollten – sie brauchten – eine Gelegenheit zum Reden. Gewöhnlich gar nicht mal, um anzugeben. Meistens schien es eher so, als suchten sie Absolution. Oder wenigstens Akzeptanz. Irgendeinen Hinweis darauf, dass das, was sie kleinen Kindern antaten, was sie ihnen antun wollten, in Ordnung war. Und nicht pervers.
Lucys Vater hatte sie oft zum Angeln mitgenommen, als sie ein kleines Mädchen war. Es hatte ihnen beiden das größte Vergnügen bereitet, die Forellen aus ihren schattigen Verstecken am Ufer des Loyalhanna Creek hervorzulocken. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass es beim Angeln nur um die Kunst des Köderns ging. Darum, den Fischen das zu zeigen, was sie wollten, es ihnen aber nie zu geben. Dad hatte recht gehabt. Und letztendlich ging es in ihrem Job auch nur um eine andere Form des Angelns. Lucy war eine gute Anglerin. Sie lebte förmlich für den Moment, wenn die Leine sich plötzlich fast bis zum Reißen spannte, wenn das Adrenalin den Augenblick verlängerte und die Zeit ihren Atem anhielt, bis Lucy die Kontrolle erlangte, den Fisch überlistete und ihn ans Ufer lockte, genau dorthin, wo sie ihn haben wollte. Genauso wie Plushenko und seinen Verteidiger. Der Anwalt blätterte in seinem Notizblock hin und her und wandte sich schließlich dem Richter zu: »In Anbetracht der vorgerückten Uhrzeit, Euer Ehren …«
Der Richter ging auf den Wink ein.
»Wir machen hier morgen weiter. Punkt neun Uhr. Bis dahin ist die Verhandlung vertagt.«
Lucy wäre lieber geblieben und hätte Plushenko ein für alle Mal untergehen sehen. Aber eine gute Seite hatte das frühe Ende: Sie würde Megan vom Fußballtraining abholen und sogar noch die letzten Minuten mitansehen können. Sie wartete, bis die Geschworenen den Saal verlassen hatten, bevor sie den Zeugenstand verließ. Sie wollte den Eindruck vermitteln, dass sie keine Eile hatte, dass sie bereitwillig jede nur erdenkliche Frage beantworten würde, wenn der Strafverteidiger sie doch nur ließe. Einige der Geschworenen lächelten sie an, während sie ihre Jacken und Pullover zusammenklaubten und der Gerichtsdiener sie nach draußen führte. Just in dem Moment, als auch sie in ihren Parka schlüpfte, wurden die Flügeltüren des Gerichtssaals geöffnet und ein hochgewachsener Afroamerikaner Anfang fünfzig trat ein. Es handelte sich um Walden, ihren zweiten Vorgesetzten.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Lucy, als sie in der Mitte des Gangs aufeinandertrafen. Allerdings verlangsamte sie ihren Schritt nicht. Sie wusste, dass nur etwas, das ernst genug war, um ihre Anwesenheit woanders als in einem verlassenen Gerichtssaal zu erfordern, Walden dazu veranlasst haben konnte, das FBI-Gebäude auf der Südseite Pittsburghs zu verlassen und den Fluss zu überqueren.
»Du hast einen Brief bekommen. Der Absender war sich wohl nicht bewusst, dass wir alles öffnen und überprüfen.«
Walden reichte ihr eine Fotokopie. Nur eine Seite. Die Wörter mittig ausgerichtet. Viele waren es nicht. Das war gar nicht nötig. Denn der Absender hatte das eine Wort verwendet, das Lucy nicht übersehen konnte: Megan. Den Namen ihrer Tochter. Sie zwang sich, den Anfang des Briefes zu lesen. Erst als ihre Brust schier zu explodieren drohte, erinnerte sie sich wieder daran, einzuatmen.
Liebe Lucy,
ich habe Dich vermisst. Du hast den falschen Mann für mein Werk in New Hope verantwortlich gemacht. Das war nicht sehr nett von Dir. Du musst das richtigstellen. Ansonsten sehe ich mich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen.
Gib Megan eine Umarmung von mir. Ich hoffe sehr,
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