Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
ganz offensichtlich Hilfssheriff Bob gehörte.
»Morgen«, sagte er. Er beugte sich noch immer über die Kaffeemaschine. Nicht gerade das beste Situationsbewusstsein, dachte Jenna. Bis sie bemerkte, dass sich in den polierten Edelstahlarmaturen vor ihm der komplette Raum spiegelte und er die Situation durchaus überblickte. Und sie wiederum konnte sein amüsiertes Lächeln erkennen.
»Morgen«, antwortete sie in neutralem Tonfall. Das Gesicht, das sie in der Rückwand des Tresens gespiegelt sah, war sogar ganz süß. Es hatte etwas Jungenhaftes, dem allerdings ein markantes Grübchen im Kinn und Fältchen in den Augenwinkeln etwas Schroffes und Wildes gaben. Hilfssheriff Bob sah so aus, als verbrächte er viel Zeit damit, in die Sonne zu starren. Hollywood würde ihn sich sofort einverleiben. Er drehte sich um, hielt zwei Tassen Kaffee in der Hand – und der Anblick wurde noch besser. Etwa eins achtzig groß, gepflegtes Äußeres, richtige Muskeln, keine aus dem Fitnessstudio, warme braune Augen und mittelbraunes Haar. Jenna hätte darauf gewettet, dass sein Haar im Sommer heller wurde. Und das Allerbeste: Er schien sich seines guten Aussehens gar nicht bewusst zu sein. Das wiederum würde in Los Angeles nie passieren.
»Sitze ich auf Ihrem Stuhl?«, fragte sie mit unschuldiger Stimme.
»Kein Problem.« Er reichte ihr eine Tasse. »Ist schwarz okay? Wenn nicht, wir haben auch Milch und Zucker.«
»Schwarz ist gut, vielen Dank.« Ihr fiel auf, dass er ihr die Tasse mit dem Sherifflogo gab. Wahrscheinlich gehörte sie ihm, aber er begnügte sich mit der schmucklosen braunen Tasse, die so aussah, als sei sie ein Überbleibsel aus den Tagen des Dairy Treats. Es ging doch nichts über die Gastfreundschaft in einer Kleinstadt. Er lehnte sich gegen den Tresen auf Jennas Seite und nahm einen Schluck Kaffee.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Agentin Galloway?«
»Genau genommen bin ich Sonderermittlerin Galloway. Ich bin bei der Bundespost.«
»Bei der Post? Ich dachte, Sie seien hier wegen Adam Caine.« Er schwieg kurz und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Sagten Sie nicht, sie kämen mit Lucy Guardino?«
»Spezialagentin Guardino hat mich hier abgesetzt.« Hilfssheriff Bob besah sich das hellbraune Linoleum auf dem Fußboden und verlagerte sein Gewicht. Er war ganz offensichtlich enttäuscht, dass es sich nur um eine schnöde Postbeamtin handelte und nicht um die berühmte FBI-Agentin.
»Aber der Fall gehört in meinen Zuständigkeitsbereich. Wir verdächtigen Adam Caine des Verstoßes gegen das US-Postgesetz, Paragraph 18, Abschnitt 876.«
»Und das bedeutet …?«
»Er hat den Postdienst der USA benutzt, um Drohbriefe zu versenden.«
Er runzelte die Stirn. »Und die Strafe beträgt …?«
»Zehn Jahre.«
»Aber er ist noch ein Kind. Fünfzehn …«
»Vierzehn Jahre alt.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ein Grund mehr, ihn ausfindig zu machen, meinen Sie nicht?«
»Sie sind den ganzen Weg von Pittsburgh hierhergekommen, nur um zu überprüfen, ob Adam von hier aus Briefe verschickt hat? Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber wir haben hier noch nicht einmal ein Postamt. Das nächste befindet sich in Alexandria.«
»Das ist mir bewusst. Der fragliche Brief wurde in Cleveland aufgegeben. Das ist der letzte Ort, an dem man Adam Caine gesehen hat.«
»Also sind Sie und Lucy hierhergekommen …«
»Der Briefinhalt verwies auf New Hope. Wir dachten, er könne vielleicht nach Hause zurückkehren.«
»Adam ist allein? Wo ist Clint?«
»Sieht so aus, als sei Adam vor zehn Monaten weggelaufen. Man schnappte ihn wegen eines Gelegenheitsdiebstahls, und als man seinen Vater nicht ausfindig machen konnte, nahm sich das Jugendamt der Sache an. Vor acht Monaten hat er einen Sozialarbeiter in einer betreuten Wohngruppe überfallen und ist geflohen. Seitdem lebt er auf der Straße.«
»Das klingt so gar nicht nach Clint. Er liebt den Jungen doch. Sind Sie sicher, dass es ihm gut geht? Er ist Fernfahrer. Vielleicht ist ihm auf einer seiner Fahrten etwas zugestoßen, und der arme Junge weiß noch nicht einmal Bescheid.«
Jenna war genervt. Sie hatte keinen Schimmer, wo Clinton Caine war, und es interessierte sie auch nicht. Ihr Fall war Adam. Ihre Suche galt Adam.
»Sonderermittlerin Galloway, mir scheint …«
So, wie er immer wieder ihren Titel aussprach, kam sie sich wie ihre eigene Großmutter vor. Wenn sie ihn sich genauer ansah, musste er ungefähr so alt sein wie sie, auch wenn er viel jünger wirkte.
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