Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
kommt. Dann habe ich ihn ins Bett geschickt.«
»Gab es irgendeine Art von körperlichem Kontakt?«, erkundigte sich Lucy mit sanfter Stimme.
»Nein … nein, nichts in der Art. Als er so wild wurde und sich so echauffierte, nahm ich ihn in beide Arme und hielt ihn solang fest, bis ich mir sicher war, dass er sich nicht wehtun würde. Er schlug weiter auf mich ein und rief nach seinem Dad, und als ich sagte, dass er nicht wieder nach Hause kommen würde, hörte er einfach auf. Er sah mich einfach nur an, als sei ich ein Monster, und rannte zurück auf sein Zimmer.«
»Wie kam er Ihnen heute Morgen vor?«
»Alles schien gut. Als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Als Kleinkind neigte er zu Alpträumen und Schlafwandeln. Ich hoffte, dass er durchgeschlafen hatte, und …«
»Und jetzt?«
»Jetzt frage ich mich die ganze Zeit, ob er davongelaufen ist. Vielleicht, um seinen Vater zu suchen? Und alles nur wegen mir.«
Bei Dad wirkte alles immer so einfach. Typisch für Adam, zu versagen. Für wen hielt er sich eigentlich? Wie kam er darauf zu denken, er könnte so gut wie Dad sein? Furcht und Anspannung beschleunigten seinen Gang. Als er den verschneiten Hang hinunterstapfte, wurde er sich der Spuren gewahr, die er hinterließ. Das war nicht gut. Keine Spuren hinterlassen, pflegte Dad zu sagen. Er riss den Zweig einer Hemlocktanne ab, verwischte sowohl seine Spuren als auch die der Kinder und begab sich zum geheimen Zugang zur Höhle. Den Zweig lehnte er gegen einen Felsblock im Eingangsbereich. Er würde ihn später noch brauchen, um neue Spuren zu tilgen. Er schlich in die hintere Kammer und linste über den Grubenrand. Dabei achtete er darauf, sich hinter der Lampe zu halten, damit die Kinder ihn nicht sehen konnten. Das Feuer war mittlerweile völlig erloschen. Marty und Darrin steckten die Köpfe zusammen und murmelten leise. Sie verschworen sich gegen ihn. Er gehörte zur Familie. Sie sollten ihn lieb haben. Stattdessen widersetzten sie sich.
Er erinnerte sich an die Male, an denen er Dads Autorität in Frage gestellt hatte. Zwar hatte er seine Zweifel nie laut geäußert, aber Dad spürte immer, wenn Adam vom richtigen Weg abkam. Dann befahl er Adam sich hinzusetzen und nahm ihn ordentlich in die Mangel. Er durfte sich erst wieder rühren, wenn Dad mit seinen Fragen fertig war. Solche Sitzungen konnten Stunden dauern. Als er noch klein war, machte er sich manchmal in die Hosen, weil es so lang dauerte. Warum war Adam kein guter Sohn? Verdiente Dad nicht Adams Vertrauen? Und wie wollte Adam Dads Vertrauen zurückgewinnen? Würde er Dads Anweisungen befolgen, egal wie schmerzlich sie waren? Das ging so lang, bis Adam seine Fehler einsah und alle Zweifel bereute. Danach stellte Dad ihn auf die Probe. Manchmal musste er etwas Ekliges essen, zum Beispiel einen Käfer. Manchmal musste er seine Hand über eine brennende Kerze halten, bis Dad ihm erlaubte, sie wegzuziehen. Das Schlimmste war, wenn es um einen Fisch ging. Adam musste ohne Dads Hilfe einen aussuchen und an Land holen. Oder er musste entscheiden, welches Werkzeug Dad zuerst benutzen würde: den Elektroschocker oder das Messer. Das Schicksal der Fische lag in Adams Händen, pflegte Dad in diesen Situationen zu sagen. So fühlte sich das Elterndasein an. Diese Verantwortung musste Dad täglich tragen, mit jeder Entscheidung, die er traf. War Adam wirklich so weit, dass er das alles allein stemmen konnte?
»Nein«, flüsterte er. Aber Dad zwang ihn dazu, Entscheidungen zu treffen, die Probe zu bestehen. Erst dann gab er Adam das, wonach der Junge sich so sehnte: den geringsten Hauch eines Nickens und eines Lächelns. Oder Dads Hand, die durch Adams Haar fuhr und ihn wissen ließ, dass alles vergessen und vergeben war.
»Ich bin noch nicht so weit «, flüsterte Adam, während er vorsichtig an die Petroleumlampe herankroch und sie an sich nahm. Als er fortging, ließ er die Kinder in fast vollständiger Dunkelheit zurück. Ihnen blieb nur das Licht des kleinen Heizkörpers. Von unten stieß Darrin einen spitzen Schrei aus, aber Adam nahm sich fest vor, nicht nachgiebig zu werden und ihn zu ignorieren. Es war schon schwer genug, erwachsen zu sein, aber er musste die richtigen Entscheidungen treffen und die Familie zusammenhalten. Selbst wenn das hieß, den Kindern auf die harte Tour beizubringen, ihm zuzuhören. Ihm zu gehorchen. So wie er Dad gehorcht hatte. Wenn doch nur Dad hier wäre. Adam kuschelte sich in seinen Schlafsack. Er war angenehm
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