Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
dann hereinwehte, wenn die Tür geöffnet wurde.
»Bei der Suchaktion, die heute Morgen startet, beteiligen sich Freiwillige der Zivilen Luftpatrouille aus drei Landkreisen und weitere Helfer.«
Bei der Leitung und Koordinierung der Einsätze wurde der Sheriff von Polizeikräften des Bundesstaates Pennsylvania unterstützt. Jeder Suchtrupp erhielt eine mit Koordinaten und Raster versehene Landkarte. Außerdem wurde jeder Gruppe ein Beamter zugeteilt. Lucy erwähnte nicht, dass man auch ein Expertenteam aus Höhlenforschern zusammenstellte, um die Höhlen zu durchsuchen. Freiwillige sollten diese Bemühungen ebenfalls unterstützen. Die meisten der Helfer waren Collegestudenten der Penn-State-Universität und begeistert von der bevorstehenden Aufgabe. Zog man allerdings die unzähligen Höhlen in Betracht, würde es wohl keine baldigen Ergebnisse aus dem Inneren des Berges geben. Die Echo Cavern, das Höhlensystem, das der Mörder von New Hope für seine Gräueltaten benutzt hatte, stand ganz oben auf der Liste. Diese Tatsache hatte die gesamten Medien in einen Zustand versetzt, der an Hysterie grenzte. Vor vier Jahren hatten Colleen und Marty noch gar nicht in New Hope gewohnt, was die Presse allerdings nicht davon abhielt, darüber zu spekulieren, ob ihr Sohn nicht vielleicht irgendwo tot auf dem Grund einer Felsspalte lag. Neben der Leiche eines Serienmörders.
Hilfssheriff Bob schob sich an den beiden Frauen vorbei. Er ließ den Kopf hängen und ignorierte den Kaffee, den Colleen ihm anbot. Im Flur hinter ihnen konnte man die Verzweiflung mit Händen greifen. Colleen schniefte leise. Wegen ihres Schluchzens schwappte der Kaffee über den Rand des Plastikbechers auf ihre Hand und platschte auf den Boden. Lucy löste Colleens Finger von dem Plastikbecher und warf ihn in den Müll. Dann geleitete sie Colleen zur Toilette. Nach dem Trübsinn draußen kamen Lucy die bunten Poster voll fröhlicher und stolzer Slogans über die Schule wie ein Schlag ins Gesicht vor. Aber Colleen bemerkte sie gar nicht. Sie schleppte sich zu einem Waschbecken und hielt sich am Rand fest. Dann klappte ihr Körper nach vorn, als sei ihre Wirbelsäule einfach durchgebrochen. Sie legte ihre Stirn auf das kühle Porzellan und ließ sich von der Trauer überwältigen.
Das passierte immer in Fällen von vermissten Kindern. Egal wie stark die Eltern und Angehörigen waren, wenn es um Kinder ging, gab es niemanden, der nicht irgendwann zusammenbrach. Lucy hatte gesehen, wie gottesfürchtige, rechtschaffene Männer unschuldige Beobachter attackierten, weil sie glaubten, sie hätten etwas mit dem Verschwinden ihres Kindes zu tun. Ein Investmentbanker aus Medina in Ohio hatte sogar nach der Waffe eines Polizeibeamten gegriffen, um mehr, neue, bessere Informationen aus dem Beamten herauszuquetschen. Zum Glück hatte man ihn nicht erschossen. Aus Erfahrung wusste sie, dass man nichts anderes tun konnte, als abzuwarten. Und das war das Allerschwierigste. Wenn die unmittelbare Krise vorüber war und die Ermittler sich anderen Fällen zuwandten, mussten die Eltern allein mit ihrem Kummer klarkommen. Die zweitschwierigste Sache war Lucys Job: eine Suchaktion abzublasen und die Familien mit wenig Hoffnung und der Aussicht auf lebenslanges Warten zurückzulassen.
Colleens Zusammenbruch war kurz und heftig. Das hieß aber nicht, dass er nun vorbei war. Krankenschwestern, Ärzten, Polizisten ging es ähnlich. Sie alle waren dazu gezwungen, zu verdrängen, und konnten ihren Gefühlen nur zeitweilig Luft verschaffen. Dann hieß es weitermachen, bis zum nächsten kurzen Zusammenbruch. Dazwischen mussten sie etwas, irgendetwas, tun. Und wenn sie nur in einem zugigen Flur standen und den Freiwilligen Kaffee in die Hand drückten, wie Colleen es versucht hatte. Aber deren Kraft war erst einmal aufgebraucht.
»Ich kann jetzt nicht zum Sammelpunkt zurückgehen«, flüsterte sie, nachdem sie sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, um die Tränenspuren zu beseitigen. »Können wir nach draußen gehen, wo es ruhiger ist? Ich brauche frische Luft.«
»Selbstverständlich.«
Lucy reichte Martys Mutter ihre Jacke, vergewisserte sich, dass sie sie richtig zuknöpfte, und führte sie aus den Toilettenräumen und vorbei an der Turnhalle, wo gerade die nächsten Suchkräfte eingewiesen wurden. Durch die Hintertür gelangten sie in eine ruhige Ecke des Schulhofes, unweit des Lehrerparkplatzes. Colleen lehnte sich gegen die Backsteinmauer und starrte in die
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