Blutflucht - Evolution
aus meinem Schockzustand. Schlagartig wurde ich innerlich ruhiger, weil seine Reaktion widersinnig war.
Tief atmete ich ein. »Meinst du, du schaffst es etwas weiter? Ich bring dich lieber zu mir nach Hause, da kann ich deine Wunde besser versorgen.«
»Da hab ich nichts dagegen. Darf ich?«, fragte er und legte einen Arm um meine Taille. Mechanisch tat ich dasselbe bei ihm, doch er brauchte meine Hilfe kaum. Er schien ein zäher Kerl zu sein. Zäh und unglaublich stark. Er war tatsächlich ein Mutant.
Krankenwagen
…, schoss es mir erneut in den Kopf. »Jack, in meiner Wohnung stirbst du garantiert nicht!« Ich würde einen Krankenwagen rufen – sobald wir bei mir wären.
Als wir aus der dunklen Seitengasse auf die menschenleere Straße traten, hörten wir in der Ferne das Heulen von Sirenen. Hatte doch jemand die Cops gerufen?
Jack, der langsam und gebeugt gegangen war, legte auf einmal an Tempo zu. »Ist es noch weit?«
»Ein paar Meter. Schaffst du es?«
»Ja, kein Problem«, erwiderte er und keuchte. Ständig blickte er sich um.
Das Geheul wurde lauter und ich war ziemlich sicher, dass es in unsere Richtung kam. Jack schaute ununterbrochen die schlecht beleuchtete Straße rauf und runter. Offensichtlich hatte er etwas zu verbergen und wollte nicht entdeckt werden.
Schließlich sahen wir drei Blocks entfernt blaue Lichter aufblitzen.
»Hier hinein«, sagte Jack schwer atmend, während er mich schon in die dunkle Nische eines Hauseinganges drückte.
»Was machst du?« Er verhielt sich sehr seltsam.
Erneut sah er mich flehend an. »Ich weiß, das kommt dir alles merkwürdig vor, aber du musst mir einfach vertrauen, bitte!«
Das war leichter gesagt als getan. Ich kannte ihn ja kaum, dennoch blieb ich mit ihm in der Dunkelheit stehen, die uns unter ihrem schwarzen Mantel versteckte.
Urplötzlich packte mich eine Alles-Egal-Müdigkeit. Das war normal nach einem Schock, wusste ich, und ich hieß dieses Gefühl willkommen. Erschöpft ließ ich mich mit dem Rücken gegen die kühle Mauer sinken.
Das Geheul der Sirene zog an uns vorbei. Ich sah das Auto nicht, denn Jack stand so nah an mich gedrückt, dass sein Körper meine Sicht verdeckte. Mein Kopf lag auf seiner Brust, wo sein rasendes Herz an mein Ohr klopfte. Während ich seinen erregenden Duft von Mann, frischem Schweiß und Seife – unverkennbar die aus der Pension – einatmete, fühlte ich mich in diesem Augenblick, in dem wir so eng umschlungen in unserem Versteck standen, wohl und geborgen. Unter anderen Umständen hätte ich ihn jetzt geküsst. Vielleicht.
Ein schwacher, metallischer Geruch holte mich in die Realität zurück: Blut. Plötzlich schoss mir wieder das Bild des Mannes im weißen Kittel in den Kopf, was das Gefühl der Vertrautheit mit einem Schlag zerstörte. War diese Erinnerung der Grund dafür, warum Jack nicht in ein Krankenhaus wollte? Mir war mittlerweile klar, dass er sich vor dem Gesetz versteckte, nur warum? Weil er ein Mutant war? Mutanten, denen man es ansah, dass sie welche waren, mussten ja nur jemanden zu lange anblicken, schon wollte man ihnen etwas anhängen oder sie für etwas bestrafen, das sie nicht getan hatten. Es war nicht leicht auf dieser Welt, wenn man »anders« war.
Meine Gabe – warum hatte ich sie nicht bei den Jungs eingesetzt? Ich hätte ihnen in ihrem drogenvernebelten Verstand die schlimmsten Dinge zeigen können und sie hätten vielleicht nicht einmal bemerkt, was ich war … aber wahrscheinlich hätte es nicht geklappt. Ich hatte meine Fähigkeiten schon ewig nicht mehr benutzt. Nun verdammte ich mich dafür.
Gerade wurde mir klar, dass Jack jetzt, außer Sam, auch über meine telepathischen Kräfte Bescheid wusste. Allerdings hatte ich mein Geheimnis nicht leichtfertig preisgegeben. Es war nicht meine Absicht gewesen, ihn mittels Gedankenkraft zu warnen. Es war völlig unbewusst passiert. Ich hatte es zuvor noch niemandem verraten, nicht einmal meinem letzten Freund, mit dem ich immerhin fast ein Jahr zusammen gewesen war.
Aber Jack verbarg wirklich schlimme Dinge, was an den dunklen Flecken in seiner hellblauen Aura zu erkennen war. Ich musste wissen, ob er ein Verbrecher war, bevor meine Gefühle für ihn noch stärker wurden und es dann vielleicht kein Zurück mehr für mich gab. Nur wenn ich die Wahrheit wusste, konnte ich ihm vertrauen.
Jack und ich blieben noch eine Weile dort, wo wir waren. Wahrscheinlich wollte er sichergehen, dass kein Wagen mehr vorbeikam. Oder er war einfach
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