Blutflucht - Evolution
sterile Kompressen und zwei Verbände aus einer Schublade hervor. Mit all den Sachen eilte ich zurück ins Schlafzimmer.
Es sah so aus, als hätte Jack sich rücklings ins Bett fallen lassen. Er schien zu schlafen. Das hoffte ich zumindest, denn sollte er das Bewusstsein verloren haben … Nein, hatte er nicht, das erkannte ich an seiner Aura. Jack war anders, sein Körper war anders. Es ging ihm offensichtlich gut.
Aufatmend deponierte ich die Sachen neben ihm auf dem Bett und schob vorsichtig sein Hemd nach oben. Das Blut darauf war bereits geronnen. Die ausgefranste Stichwunde an seinem Bauch hatte sich schon fast geschlossen, was unmöglich sein konnte. Ich war zwar kein Arzt, doch ich kannte mich in medizinischen Belangen gut aus. Jack hätte operiert werden müssen. Doch nun würde ich den Krankenwagen nicht mehr rufen müssen. Er war wirklich ein außerordentlicher Mut … Mann.
Ich nahm trotzdem das Desinfektionsmittel, um es auf die dünne Kruste zu sprühen. Jack hatte immer noch die Augen geschlossen. So würde er wenigstens nicht bemerken, wie intensiv ich seinen Körper anstarrte.
Wie flach sein Bauch war. Ich erkannte beinahe jeden Muskel. Unterhalb seines Nabels führte eine Linie aus schwarzen Härchen unter den Bund seiner Hose. Ich wollte nicht dran denken, wie er unter der Jeans aussah, denn mein Herz klopfte bereits wild genug.
»Schläfst du?«, flüsterte ich.
»Noch nicht, aber gleich.« Lächelnd öffnete er seine schönen grauen Augen. Dieser Blick ließ mein Herz schon wieder schmelzen, doch diesmal würde ich mich nicht so daneben benehmen wie in Sams Keller. Für meine Schüchternheit hatte ich ohnehin keine Energie mehr.
»Kannst du dich noch einmal aufsetzen?«, fragte ich ihn. »Wegen des Verbandes.«
»Ich glaube, der ist überflüssig.«
Er schien recht zu haben. Bei Jack wunderte mich fast nichts mehr.
»Lass mich wenigstens dein Hemd ausziehen. Es ist voller Blut.« In dem Punkt widersprach er mir nicht. Er setzte sich auf und ich half ihm beim Ausziehen – unnötigerweise, denn er schaffte es prima allein. Dabei fiel mir eine große Narbe unter seinem Rippenbogen auf sowie unzählige kleinere. Mein Gott, war er in ein Schaufenster gefallen?
»Die Hose sieht auch nicht besser aus«, fügte ich hinzu und diesmal musste ich grinsen. Diese groteske Situation hatte meine Schüchternheit tatsächlich dezimiert.
»Du willst wohl gleich zur Sache gehen?« Jack zwinkerte, worauf ich dann doch rot anlief. So ganz abstellen ließ sie sich also nicht, diese verflixte Schüchternheit.
Als er seinen Gürtel öffnete, schnappte ich mir das Verbandszeug, sagte: »Bin gleich wieder da«, und brachte die Sachen ins Badezimmer zurück. Mir war diese Situation irgendwie peinlich.
Wow, jetzt hatte ich einen halbnackten Mann in meinem Bett liegen. Fast so, wie ich es mir wochenlang erträumt hatte.
Beim Blick in den Spiegel erschrak ich furchtbar: Mein Hals war an den Stellen voller Blutergüsse und Kratzer, wo mich die irren Teens gewürgt und geschnitten hatten. Jetzt erst bemerkte ich erneut, wie weh meine Kehle tat. Bei jedem Schluck brannte sie. Mit Schrecken dachte ich an die Szene im Innenhof. Ohne Jack wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Schnell schüttelte ich diesen furchtbaren Gedanken ab und war froh, dass die Sache für mich nun eher distanziert wirkte, als wäre sie nie wirklich geschehen.
Als ich zurückging, lagen Jacks Turnschuhe, seine Jeans und das blutige Shirt auf dem Boden und er selbst im Bett, nur mit einer eng anliegenden schwarzen Shorts bekleidet. Einige Sekunden starrte ich auf seinen umwerfend gut gebauten, aber von Narben übersäten Körper. Wie sehr sehnte ich mich danach, einem Mann mal wieder ganz nah zu sein! Wäre er nicht verletzt gewesen, wäre ich vielleicht über ihn hergefallen, um ihn nach Strich und Faden zu vernaschen. Aber »so eine« war ich nicht. Dafür war ich viel zu schüchtern, was sicher daran lag, dass ich mein Leben lang nicht auffallen wollte, nie die Kate rausgelassen habe, die ich tief in meinem Herzen war. Sich immer bedeckt halten, nichts riskieren – das war meine Devise.
Plötzlich befiel auch mich die Müdigkeit. Kein Wunder, denn draußen begann langsam ein neuer Tag. Dort, wo am Horizont die Sonne aus dem Meer stieg, ließ sie das Wasser gelborange funkeln – was ich heute jedoch kaum wahrnahm. Fischer schipperten mit ihren kleinen Booten zu den schwimmenden Netzkäfigen, um die Nachtschicht abzulösen, und die ersten
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