Blutfrost: Thriller (German Edition)
mir sicher war, dass wirklich alle schliefen. Meine zwei Koffer waren fertig gepackt, nur noch eine Sache war zu tun. Der blasse Junimond warf sein fahles Licht durch die dünne, weiße Gardine auf mein Abiturzeugnis, das ich einpacken musste. Meine Noten waren besser als seine, ich konnte direkt mit dem Medizinstudium anfangen, während er ein Jahr warten musste, um aufgenommen zu werden. Sie hatten ihn getröstet, waren zu ihm geeilt und hatten ihn gestützt. Dass er aber auch immer so ein Pech haben musste … Das war wirklich nicht gerecht. Er sei doch gut und müssenur an sich glauben! Sie nickten ihm aufmunternd zu, während ich etwas abseits unter dem Sonnenschirm im Garten stand und irgendwann mein Glas fallen ließ.
Meine Finger tasteten nach der Rosenschere, die unter dem Bett lag. Schließlich ergriff ich sie, stand aus dem Bett auf, nahm mir die Klebebandrolle vom Schreibtisch und trat auf den Flur. Dank der großflächigen Fenster war es im Sommer auf unserem Flur nie ganz dunkel. Das erste Zimmer war das meiner Eltern. Vorsichtig lauschte ich an der Tür. Nichts. Ich sah durch das Schlüsselloch hinein, konnte aber kein Licht erkennen. Dann ging ich vorbei am Gästezimmer bis zum Ende des Flurs. Dort legte ich erneut das Ohr an die Tür: auch nichts. Ich sah durch das Schlüsselloch. Finsternis. Vorsichtig öffnete ich die Tür von Daniels Zimmer und schloss sie ebenso leise wieder hinter mir. Stand im Dunkeln, blickte durch die geöffnete Balkontür und spürte mein Herz klopfen. Ich konnte ihn riechen. Der Schweiß achtzehnjähriger Jungs roch stark nach Hormonen. Ich spürte ein Vibrieren in meinem Kopf, eine Empfindung, die eine solche Wut freisetzte, die gar nicht zu mir passte, oder besser, die nicht zu mir gepasst hätte, wäre ich nicht in diesem Haus mit seinen vier Schlafzimmern aufgewachsen: drei mit kleinen Balkonen, eines ohne – meines.
Ich riss mit den Zähnen ein langes Stück Tape ab, schlich mich zu dem Bett und lauschte seinem ruhigen Atem. Mir fielen die vollen Lippen meines ach so hübschen Bruders auf. Ohne ihn dabei zu wecken, klebte ich ihm das Tape über den Mund und sicherte es. Er rührte sich noch immer nicht. Ich wusste, dass er fest schlief, schließlich war er in der Früh kaum wach zu bekommen. Wenn ich ihn wecken sollte, war das immer eine kleine Genugtuung gewesen, ich konnte ihn unter der Nase kitzeln oder am Ohr ziehen – ohne jede Reaktion, wie jetzt. Ich zog seine rechte Hand unter der Decke hervor undschob den kleinen Finger bis fast zum Handrücken zwischen die Klingen der Rosenschere. Dann drückte ich zu, bis er aufwachte. Presste die Schere so fest auf seinen Finger, dass er ihn nicht wegziehen konnte. Er wachte mit wundervoll leidendem Stöhnen auf, strampelte und versuchte, sich hinzusetzen, aber ich stieß ihn zurück, während er unter dem Tape grunzte. Er versuchte nicht einmal, seinen Finger wegzuziehen, sondern lag einfach da und wartete darauf, dass Mutter mit Keksen in den Raum stürmen und ihn mit ihrem üblichen besorgten Wortschwall befreien würde.
»Wenn du auch nur ein Wort sagst«, begann ich mit normaler Stimme – ich wusste ja, dass die beiden Menschen am anderen Ende des Flurs zu weit weg waren und dass mehrere Wände zwischen uns lagen –, »begnüge ich mich nicht bloß mit dem kleinen Finger. Dann wachst du eines Nachts ganz ohne Finger auf und kannst deine Arztkarriere vergessen. Und deinen Flittchen in den Hintern kneifen kannst du dann auch nie wieder. Eigentlich kannst du dann alles vergessen, was Spaß macht.« Er verstummte hinter dem Tape, und ich konnte mir das Lachen nicht mehr verkneifen. »So meinte ich das nicht, ich meinte – hinterher … Wenn du petzt, wenn du auch nur einer Seele sagst, dass ich dir deinen Finger abgeschnitten habe, hacke ich dir irgendwann alle Finger ab. An beiden Händen. Mir egal, was du denen für Geschichten auftischst.« Ich drückte mit der Schere etwas fester zu. »Denk dir was aus, vielleicht hast du dich rausgeschlichen und bist in schlechte Gesellschaft geraten, was weiß ich?« Dann nutzte ich alle Muskeln in meinem Arm, um seinen rechten kleinen Finger abzutrennen. Aus seinem Bauch erklang ein langgezogenes, schmerzerfülltes Stöhnen. Ich ging hinüber zur Tür und schaltete das Licht ein. Er saß über seine Hand gebeugt da, die Bettdecke sog sich mit Blut voll. Ich gab ihm einen Lappen, den ich für diesen Zweckmitgebracht hatte. Er warf mir den flehendsten Blick zu, den ich jemals
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