Blutfrost: Thriller (German Edition)
las sie und legte sie ihm auf den Schreibtisch, sagte aber weder ihm noch meinen Eltern je etwas davon.
Ich wusste nicht, was ich ihm getan hatte. Davon abgesehen natürlich, dass ich ihm den Mythos vom armen Daniel nie abgekauft hatte.
Irgendwann hatte er eine Freundin, genauer gesagt eine nach der anderen, schließlich war er hübsch. Seine Auserwählten waren meinen Eltern jedoch nie gut genug, und manch ein Abendessen wurde mit langwierigen Diskussionen verbracht, warum sie nichts taugten und wie er sich auf die für ihn angenehmste Art von ihnen trennen konnte. Diese Trennungen waren für die Mädchen immer erniedrigend und schmutzig, und es war jedes Mal meine Mutter, die sich neue Varianten ausdachte, um diese dummen Dinger dafür zu bestrafen, dass sie den armen Daniel mit ihrer Anwesenheit und ihrer Spucke besudelt hatten. Doch egal, wie viele Weiber er aufriss und wieder abservierte, es blieb ihm immer genug Zeit, mich mit Grobheiten oder anderen Dingen zu demütigen.
Ich hatte Unmengen über Zwillinge und ihre besondere, geheimnisvolle Beziehung gelesen und wünschte mir von ganzem Herzen, so einen Zwilling zu haben. Was ich jedoch hatte, war nichts, keine Eltern, die sich für mich einsetzten, wie sie es tagaus, tagein für meinen Bruder taten.
Meine Mutter starb, als ich achtundzwanzig war, und mein Vater folgte ihr zwei Jahre später. Weder der eine noch der andere Verlust ging mir sonderlich nah. Ich hatte sie nie wie Vater und Mutter empfunden, sondern nur wie die Menschen, die unglücklicherweise mit mir in einem Haus wohnten, als ich ein Kind war.
Als meine Mutter starb, hatte ich sie und Vater seit zehn Jahren nicht gesehen, und aufgrund dieses Versäumnisses wurde es mir untersagt, mich an der Planung der Beerdigung zu beteiligen, was mir im Grunde aber nur recht war. Ich glaubte zu wissen, dass man dem Pastor für die Ausarbeitung der Trauerrede all die schönen und guten Erlebnisse mitteilte, die man mit einem Verstorbenen gehabt hatte, und was das anging, hatte ich nicht viel beizutragen. Mein Bruder, der mir zu diesemZeitpunkt schon seit Jahren zahllose Hass-E-Mails geschickt hatte, widmete mir zu diesem Anlass nur Minuten nach Mutters Tod ein ganz besonderes Epos: Dass sie nun tot war, dass er im letzten Moment ihre Hand gehalten hatte und dass ich mich von der Beerdigung fernhalten solle – das sei Vaters und sein Wunsch.
Ich ging in Begleitung von Großvater natürlich trotzdem hin und trank anschließend auch ein Glas Bier auf ihr Wohl. Tags darauf erhielt ich erneut eine E-Mail von Daniel. Er schrieb, ich hätte mich auf der Beerdigung meiner Mutter wie eine Nutte aufgeführt, immer wieder gegrinst und Großvater etwas zugeflüstert. Ich weiß nicht, ob Nutte das richtige Wort war, aber ansonsten stimmte das schon. Ich hatte gelächelt, geflüstert und meinen Großvater darauf aufmerksam gemacht, wie meine damalige Schwägerin – ich glaube, das war Daniels zweite Frau – auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen am Arm des Simulanten in die Kirche gestolpert war und darauf bestanden hatte, sich erst einmal lautstark die Nase zu putzen. Ich war überzeugt, dass sie damit der ganzen Kirche zeigen wollte, wie sehr sie um ihre Schwiegermutter trauerte, dabei sah ich ihrer roten Nase genau an, dass sie in Wahrheit bloß schrecklich erkältet war. Es war schlichtweg undenkbar, dass eine von Daniels wasserstoffgebleichten, nuttigen Frauen wirklich etwas bei Mutters Tod empfand, schließlich hatte die nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihr Daniels Auserwählte und sein ganzer Frauengeschmack missfielen.
Als mein Vater zwei Jahre später starb, hatte ich ihn, abgesehen von der kurzen Begegnung bei Mutters Beerdigung, zwölf Jahre nicht gesehen. Ich erfuhr von seinem Tod durch eine ebenso knappe wie widerliche E-Mail von Daniel: »BLEIB BLOSS VON VATERS BEERDIGUNG WEG« – wobei er mir zuvor in deutlich längeren Briefen immer wieder meineMängel und Fehler mitgeteilt hatte. Nach dieser Mail dachte ich, gut, was soll’s, bleibe ich eben weg.
»Vater ist aus Trauer über deinen totalen Verrat gestorben. Wenn ich du wäre, würde die Schuld mich derart zu Boden drücken, dass ich die Hilfe eines Psychologen bräuchte«, schrieb Daniel in seiner nächsten E-Mail. Tja, dachte ich, kann gut sein, dass ich einen Psychologen brauche, aber nicht wegen irgendwelcher Schuldgefühle. Auch in den Jahren danach kamen immer wieder Nachrichten von Daniel, die ich unbeantwortet ließ, bis sie
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