Blutfrost: Thriller (German Edition)
Unfall, vor dem Tag, an dem ich ihr Leben zerstört habe.«
»Und Ihre Tochter?« Lass wenigstens mit dieser Tochter alles in Ordnung sein, dachte ich, sonst müsste mein steinhartes Herz womöglich zerbersten.
»Ihr geht es gut. Sie studiert Tiermedizin.« Er lächelte mit seinem großen, markanten Mund und war wieder der überirdische Buddha, den ich zu treffen gehofft hatte.
»An was erinnern Sie sich?«
»An den Unfall selbst überhaupt nicht. Da sind nur Bruchstücke. Das Schreien meiner Frau. Der ganze Aufruhr, mich in Seitenlage zu bugsieren und vom Unfallort wegzuschaffen. Eine lange, dunkle Zeit ohne jede Erinnerung, nur das Gefühl eines unendlichen Verlustes. Als ich im Krankenhaus lag, hielten sie mich wirklich für hinüber, sie dachten, dass ich nichts mitbekäme. Ich wurde beatmet, und die Ärzte standen um mich herum und debattierten darüber, ob sie die Herz-Lungen-Maschine ausschalten sollten. Ich habe jedes Wort gehört, konnte aber nichts sagen.« Er sah weg.
»Der menschliche Geist hat die seltsame Fähigkeit, meist nur all das Schreckliche, was man erlebt hat, zu speichern. Ich habe mir anschließend wirklich Mühe gegeben, mich ausschließlich auf die guten Erlebnisse zu konzentrieren.«
Ich versuchte mit aller Macht, mich an etwas Gutes zu erinnern, während er weiter von seiner früheren Frau und seinen Kindern erzählte.
Wieder hatte ich das Gefühl, kein normales Leben gelebtzu haben, und das nagende Gefühl der Sehnsucht und die altbekannte Einsamkeit meldeten sich.
Ich fand es nicht komisch, ihn füttern zu müssen, denn schließlich bedeutete »Fingerfood« ja eigentlich nichts anderes. Wie sollte es sonst gehen? Seine Hände, die kundige Ärzte vor zehn Jahren Abend für Abend eingewickelt hatten, bis aus ihnen irgendwann für immer geballte Fäuste geworden waren, lagen bläulich und welk auf seinem Schoß. Nachdem eine Krankenschwester Nadeln in seine Hände gestochen hatte, um zu überprüfen, ob es nicht doch noch aktive Nerven gab, dies aber nicht der Fall war, hatte die Schwester ihn einfach als Tetraplegiker eingestuft und aufgegeben. Er hatte Lähmungen in der unteren Körperhälfte und in den Händen. Das Einwickeln der Hände sei die praktischste Maßnahme, hatten die Ärzte gesagt. Ich stellte sein Weinglas auf seine geschlossene Hand und hielt es fest, während er das Glas selbst zum Mund führte. Er behauptete von sich selbst, früher recht trinkfest gewesen zu sein, was in Anbetracht des Aufwandes, den man für einen einzigen Schluck leisten musste, kaum vorstellbar war. Andererseits war absolut nachvollziehbar, dass man mit einer solchen Lähmung zum Alkohol griff. Lag es nicht in der Natur der Sache, dass alle mit einer Behinderung, alle, die vom Leben enttäuscht wurden, zu Alkohol neigten?
»Ich habe meine Tochter verloren«, hörte ich mich plötzlich selbst sagen. Eine besorgte Falte erhob sich zwischen seinen Brauen. »Sie wurde im letzten Sommer von zwei Psychopathen getötet. Am dreizehnten Juli. Ich wurde mitten in der Nacht zum Tatort gerufen, und als ich kam, lag sie einfach da.« Ich sah zu ihm auf. Ich musste das jetzt einfach loswerden, ihm alles erzählen: »Niemand hier weiß, dass ich eine Tochter hatte, sie war neunzehn. Sie dürfen das niemandem sagen, denn wir dürfen keinen Fall übernehmen, bei dem Familienmitgliederbetroffen sind, das heißt, wir dürfen schon, nur dürfen wir diese Personen nicht für tot erklären. Ich habe das aber trotzdem getan. Und alle angelogen. Ich habe sie sogar selbst obduziert …«
»Sie sind Rechtsmedizinerin?« Er sah total überrascht aus.
»Na ja, woher sollten Sie das auch wissen. Ja, ich bin sogar stellvertretende Leiterin des Instituts für Rechtsmedizin.«
»Also wirklich, so sehen Sie gar nicht aus.«
»Wie sieht denn eine leitende Rechtsmedizinerin aus?«
»Na, nicht wie eine kleine, schlanke, feminine Frau in einem roten Kleid, das ist schon mal klar.«
»Diese kleine, schlanke, feminine Frau ist ziemlich stark«, sagte ich und erklärte ihm, dass ich selbst die Leichen öffnete, obwohl die meisten meiner Kollegen dies von den rechtsmedizinischen Technikern machen ließen. Auf meine Armmuskeln war ich richtig stolz.
»Entschuldigen Sie, reden Sie weiter«, bat er.
»Einer ihrer Mörder brachte schließlich den anderen um und floh ins Ausland. Als die Ermittlungen ins Stocken gerieten, wäre ich fast wahnsinnig geworden – sie war ermordet worden, für immer verschwunden, sodass die
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