Blutfrost: Thriller (German Edition)
schließlich ausblieben. Später vergaß ich meinen Bruder dann sogar. Großvater und ich redeten nie über ihn – es war sicher fünfzehn Jahre her, dass sein Name bei einem unserer Gespräche erwähnt worden war. Die Neuigkeit, dass er jetzt hier in der Stadt wohnte und in der Urologie arbeitete, war deshalb in jeder Hinsicht haarsträubend. Zum Gott weiß wievielten Mal dachte ich, dass wir viel zu viel gemeinsame DNA hatten. Wie passend es war, dass ein Mann, der von seiner eigenen grünen Scheiße verschmiert auf die Welt gekommen war, eine Karriere verfolgte, die sich – vorsichtig ausgedrückt – einem anderen menschlichen Abfallstoff widmete, ging mir erst jetzt auf.
Plötzlich überwältigt von dem Drang, umsorgt und verwöhnt zu werden, holte ich wieder die Visitenkarte des Mannes im Rollstuhl hervor. In seiner friedlichen Ruhe erinnerte er fast an eine Art Buddha, und Ruhe konnte ich jetzt wirklich gebrauchen. Der Mann hieß Claus Søndergaard und wohnte auf der Langelinie im Zentrum Odenses. Wohnten da nicht die wirklich Reichen, während sich all die Emporkömmlinge und Ärzte mit dem ach so netten Hunderupvej begnügen mussten? Offensichtlich hatte ich dieses tote Nest namens Odense schon komplett schubladisiert, blieb nur die Frage, was ich eigentlich gegen Ärzte hatte.
Ich tippte den Namen in das Google-Suchfeld und versicherte mich durch die Bildsuche, dass ich es auch mit dem richtigen Claus Søndergaard zu tun hatte, denn natürlich gab es mehrere Männer dieses Namens. Anscheinend war er früher einmal der Polizeichef von Kolding gewesen und wohnte – wie ich dank Google Earth herausfand – in einem Haus, das viel zu groß für einen früheren Polizeibeamten war. Da ich schon immer eine Schwäche für Ungereimtheiten gehabt hatte, gewann er dadurch meine volle Aufmerksamkeit. Wieder drehte ich seine Visitenkarte in meiner Hand hin und her, ja ich roch sogar an dem Papier. Die Karte war schlicht, sah aber teuer aus. Was war nur mit mir los? Ich spürte ein vertrautes Kribbeln im Körper, und das, obwohl ich an einen Gelähmten dachte, der bloß ein interessantes Gesicht hatte. Einfach zu erklären war das ganz und gar nicht. Was stellte ich mir vor? Einen Sexgott auf Rädern? Buddha im Rollstuhl? Ich steckte die Karte in mein Portemonnaie und versuchte, die Gedanken an ihn zu verdrängen. Dann holte ich sie wieder heraus und rief ihn an.
»Hallo. Sie wissen nicht mal, wie ich heiße, und das ist an sich schon merkwürdig, aber wir haben uns neulich in der Urologie getroffen.« Ich machte eine Pause, bildete mir ein, ihn lächeln zu hören, und redete weiter. »Und jetzt interessiert mich, was Sie sich gedacht haben, als Sie mir Ihre Karte gegeben haben.«
Als ich den Hörer auflegte, hatte ich eine Einladung zu Fingerfood in der Langelinie bei einem früheren Polizeichef erhalten, der ebenso lahm wie unverwüstlich zu sein schien.
»Aber Achtung!«, hatte er gesagt. »Ich bin etwas für Fortgeschrittene.«
Mit so etwas machte man einer Frau wie mir keine Angst, weshalb ich provokant fragte: »Und was können Sie? Küssen?«
»Das kriege ich noch hin, ja.«
Nach dem Gespräch dachte ich darüber nach, ob sich außer dem Menschen wohl noch andere Tierarten küssten, und wenn ja, warum. Mir fiel aber keine ein. Unweigerlich musste ich dann an das eine Mal denken, als Daniel mich auf die Wange geküsst hatte. Er hatte seine dicken, weichen Lippen sanft auf meine Haut gedrückt, und ich war entsetzt zusammengezuckt. Vermutlich hatte ich damit gerechnet, dass er mir ein Stück meiner Haut wegsaugte, sodass ich wie ein Schwein blutete. Später fragte mich Mutter, was denn los gewesen sei, und ich erzählte ihr alles. Daniel leugnete es, und sie glaubte ihm natürlich und warf mir boshafte Lügen vor, ohne sich wirklich für die Wahrheit zu interessieren. Daniel bestand auch darauf, nichts von dem zerbrochenen Glas zu wissen, das ich eines Morgens in meinem Haferbrei fand. Als ich ihn einmal dabei erwischte, wie er drei 1,5-Liter-Flaschen Chlorin in mein Badewasser kippte – ganze drei Flaschen –, sagte er unserer Mutter, dass er nur die vergilbte Wanne hatte putzen wollen. Dieses Bad hätte mein Ende sein können. Nun gut, ich selbst war auch kein Engel. Jedenfalls nicht in der letzten Nacht, die ich in meinem Elternhaus verbrachte.
Ich hatte stocksteif in meinem Bett gelegen, alle Kleider angelassen und gewartet, während ich immer wieder auf die Uhr sah: 01.45 Uhr. Ich wartete, bis ich
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