Blutfrost: Thriller (German Edition)
Gewissheit, dass der Täter noch immer irgendwo dort draußen herumrannte, unerträglich war. Irgendwann fand ich heraus, dass er sich in Deutschland aufhielt, in Freiburg. Ich fuhr dort hinunter, um ihn eigenhändig umzubringen – aber das hat dann ein anderer für mich erledigt. Ich konnte den Gedanken, dass er quicklebendig herumlief, einfach nicht ertragen.«
»Und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, der Polizei zu erzählen, wer es ist und wo er sich aufhält?«
Ich schüttelte den Kopf. »Den Gedanken hatte ich schon, aber irgendwie war es da bereits zu spät. Außerdem habe ich immer wieder an all die Mörder gedacht, die lebenslänglichbekommen und dann trotzdem bald wieder draußen sind. Lebenslänglich bedeutet hier in unserem Land doch nicht viel. Unser merkwürdiges Rechtssystem bevorteilt doch immer den Täter auf Kosten des Opfers, und dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Aber um ehrlich zu sein – so schrecklich viel habe ich wohl überhaupt nicht nachgedacht.«
Als ich eine Flasche Amarone später nach Hause ging, hatte ich nicht einmal einen Kuss bekommen, doch das machte nichts. Ich war irgendwie erleichtert. Jemand hatte mir zugehört. Ein warmes, friedvolles, fast glückliches Gefühl erfüllte mein Inneres. Es machte auch nichts, dass ich ihn eigentlich angelogen und gesagt hatte, meine Tochter sei ermordet worden, schließlich hatte ich das ja so empfunden. Dass sie die Tochter einer anderen Frau war und meine eigene nur in einer viel zu realen Fantasie in meinem seltsamen Kopf existierte, machte eigentlich keinen Unterschied. Meine neunzehn Jahre alte Fantasie, meine Tochter namens Emilie, starb gemeinsam mit einem real existierenden, höchst lebendigen neunzehnjährigen Mädchens gleichen Namens. Alles, was mir blieb, war das höchst reale Gefühl, eine Tochter gehabt zu haben, die ich jetzt nicht mehr hatte. Manchmal bildete ich mir ein, sie sehen oder spüren zu können, doch wenn ich meine Hand nach ihr ausstreckte, war sie fort. Das Gefühl der Einsamkeit hätte nicht erdrückender sein können.
6
Mein iPod spielte gerade Send me an angel to love , als der Leiter der Rechtsmedizin mit einem angedeuteten Klopfen durch meine geöffnete Tür trat.
Mein Büro war groß. Und braun. Bestimmt das größte und braunste Büro, das ich jemals gehabt hatte. Mein Schreibtisch stand an der Wand, sodass sich jeder von hinten an mich heranschleichen konnte, wenn ich Musik hörte. Als der Chef gegen neun Uhr in mein Zimmer kam, war ich gerade aus den Gedanken an meinen Abend mit dem Rollstuhlfahrer aufgewacht und starrte auf Andy Warhols Suppendose an der Wand neben der Tür. Ich zog die Ohrstöpsel heraus und warf Madsen einen einladenden Blick zu, da ich in Gedanken noch bei meinem Mann im Rollstuhl war. Wenn er das nur nicht missverstand.
Anscheinend nicht. Er schloss die Tür leise hinter sich, was in der Regel bedeutete, dass er etwas Ernstes, Zeitraubendes im Sinn hatte. Scheiße, dachte ich.
»Ich habe etwas, das Sie mal lesen sollten«, sagte er und legte ein kleines Buch mit einem schwarz-weißen Umschlag auf meinen Schreibtisch: Doktor Glas von Hjalmar Söderberg.
»Ich denke, Sie werden darin etwas finden, das Sie zum Nachdenken anregt.« Er sah mich mit ernster Miene an. Ich studierte die Vorderseite und las den Untertitel: Das Tagebuch eines Arztes, der heilen soll und stattdessen tötet, um die Frau, die er liebt, aus einer unwürdigen Ehe zu befreien .
Ich rümpfte die Nase und sah ihn anklagend an. »Und warum sollte das etwas für mich sein?«
Er zuckte vorsichtig mit den Schultern und murmelte etwas davon, dass das ethische Dilemma doch immer etwas für Ärzte sei und dass ihm selbst diese Lektüre viel gegeben habe.
»Danke«, sagte ich und heuchelte Interesse, indem ich das Buch aufschlug. Es stammte aus dem Jahr 1905. Typisch, diese alten Esel lasen immer nur Klassiker.
»Das ist aber nett von Ihnen.« Ich war richtig in Geberlaune, schaffte sogar ein dankbares Grinsen, steckte das Buch in meine Tasche und sagte lächelnd: »Ich freue mich darauf, das zu lesen.« Er nickte zufrieden. Was für eine Sternstunde, dachte ich und schwieg, bis er schließlich wieder ging.
Zeit, die E-Mails zu checken, die ich im Laufe des vergangenen Abends und der Nacht erhalten hatte. Es waren erstaunlich wenige, die meisten noch dazu langweilig. Dann aber klickte ich eine Nachricht an, die höchst merkwürdig wirkte.
Liebe Frau Dr. Krause,
der, der Ihnen am nächsten steht, ist
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