Blutfrost: Thriller (German Edition)
gesehen hatte. Was? Was wollte er von mir? Der Finger war doch bereits ab und lag wie ein Scherzartikel auf seiner Bettdecke. Ich ging zum Bett, nahm ihn und steckte ihn in meine Tasche.
»Ich würde dir raten, nicht in Kopenhagen Medizin zu studieren, da bin ich nämlich. Geh an eine andere Uni, wenn du überhaupt einen Studienplatz bekommst. Bleib weg von mir!« Und das tat er. Er hielt sich auf Distanz. Zehn Jahre später sah ich ihn bei der Beerdigung unserer Mutter, und jetzt, weitere zwanzig Jahre später in Odense.
Die Alarmfunktion meines Handys meldete sich. Vorlesung in fünf Minuten. Ich sammelte meine Notizen zusammen und stand auf.
5
Ich wollte ihm nah sein. Wollte etwas von der Ruhe spüren, die in ihm wohnte und von der ich hoffte, dass sie auf mich abfärbte. Wollte von ihm begehrt werden. Diesen Wunsch hatte er selbst geweckt, ohne dass ich wusste, warum. Bereits bei unserer ersten Begegnung hatte ich seinen begehrlichen Blick gespürt, und ich hatte Gefallen daran gefunden. Ich trug mein rotes Kleid. Mein rotes Kleid war mein Sex-Kleid. Wonderbra und Schuhe mit acht Zentimeter hohen Absätzen, das ganze Outfit schrie förmlich nach Sex. Und genau das wollte ich. Ich war wirklich nicht bei Sinnen.
»Sie sind sehr, sehr hübsch, aber das wusste ich ja schon, und Ihre Beine …, die sind wirklich fantastisch«, sagte er, nachdem seine Haushaltshilfe Else, eine verhärmte Frau Mitte vierzig, mir die Tür geöffnet hatte. Es war ein ungemein peinlicher Augenblick, der nur noch peinlicher wurde, als er mich mit meinem knielangen Mantel in der Tür stehen ließ, um mich eine gefühlte Ewigkeit zu betrachten. Nicht nur er, auch seine Haushaltshilfe glotzte mich an, als wäre ich irgendeinem Raritätenkabinett entsprungen. Irgendwann setzte er dann endlich mit dem Rollstuhl zurück und ließ mich hereinkommen.
Ich folgte ihm durch die große Eingangshalle, unter deren Decke ein Kronleuchter hing, über einen langen Flur bis in das Wohnzimmer. Es war vollkommen still in diesem Haus, nur das leise Rollen der Räder und das spitze, harte Klacken meiner Schuhe waren zu hören. Keine Teppiche. Alte Meister in goldenen Rahmen und eine B&O-Stereoanlage aus dem letzten Jahrzehnt. Designermöbel, der Geruch nach Geld und fremden Reinigungsmitteln. Das alles war so weit von mir weg, eineganz andere Welt, und doch auch irgendwie vertraut, ja intim. Ich hörte mein Blut in meinen Ohren rauschen.
Er bat mich, auf dem eleganten Chesterfield-Sofa Platz zu nehmen, und steuerte dann seinen Stuhl neben mich. Trotzdem fühlte es sich an, als säßen wir in einem Schlosssaal an einem langen Tisch, kilometerweit voneinander entfernt. Er sei gerade aus Italien zurückgekommen, sagte er, als er meinen Blick auf das große Weinregal bemerkte, das sich unter dem Gewicht zahlloser Amarone-Flaschen bog. »Ich bin sonst eigentlich kein großer Weintrinker«, sagte er, als seine Haushälterin eine Flasche entkorkte und sie neben dem anderen Italienimport – Oliven, Salami und Mozzarella – auf den Couchtisch stellte.
»Mir ist ziemlich egal, wie das Zeug schmeckt«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Medizin schmeckt selten richtig gut.«
Er lächelte, und ich wusste, dass er mich verstanden hatte. Im Gegensatz zu mir hatte er sicher eine feine Zunge und kannte sich mit den Vorzügen des Lebens aus. Wie die meisten anderen Menschen.
»Wie ist das passiert?«, fragte ich ohne weitere Umschweife und deutete auf den Rollstuhl. Er war schließlich kein Mann, der um den heißen Brei herumredete.
»Wir waren in den Ferien in New York und wollten ein paar Freunde in Buffalo besuchen. Ich hatte mir am JFK ein Auto geliehen. Mein elfjähriger Sohn saß neben mir auf dem Beifahrersitz. Er verstand sich gut aufs Kartenlesen. Meine Frau und meine Tochter saßen hinten. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was passiert ist, aber plötzlich lag ich auf dem Asphalt und konnte meinen Körper nicht mehr spüren. Alles, was ich hörte, war das Geschrei meiner Frau, weil unser Sohn Jonas tot war. Ich lag nur da und hoffte, bald bei ihm zu sein.«
Natürlich bereute ich es sofort, gefragt zu haben, hörte mich aber trotzdem sagen:
»Ihre Frau? Wo ist sie jetzt?«
»Ich habe sie irgendwann rausgeschmissen. Sie trank und verhielt sich nur noch widerlich. Sie war vom frühen Morgen an betrunken und beklagte sich den ganzen Tag nur, dass ich ihr Leben zerstört hätte. Ich vermisse sie schrecklich. Also die Frau, die sie vorher war, vor dem
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